5. Fastensonntag - Lesejahr A

1. Lesung (Ezechiel 37,12b-14).
2. Lesung (Römer 8,8-11)
Evangelium (Johannes 11,1-45)

Der Glaube, der Gräber öffnet
Wir stehen heute am Grab eines jungen Mannes. Es gehört zu den schmerzlichsten und erschütterndsten Erfahrungen, einen jungen Menschen zu beerdigen, einer, den wir mochten, von dessen Lebendigkeit und Hoffnung auch wir irgendwie lebten. Der Schmerz ist umso größer, je näher er uns war, am schlimmsten ist es, wenn es der eigene Sohn oder die eigene Tochter, der Bruder oder die Schwester ist. Es ist fast so, als müsse man etwas von sich selbst endgültig weggeben. Es ist eine offene Wunde, die zu berühren sehr weh tut.
Die Erzählung von heute kreist um ein solches Grab. Am Anfang steht die Nachricht von der ernsten Krankheit, am Ende ein Ereignis, das so unglaublich klingt, wie wenn man die Zeit zurückdrehen könnte.
Dazwischen hören wir jenen Satz, der das Ganze in ein anderes Licht stellt.
"Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben" (Johannes 11,25/26).
Allerdings brauchen wir Zeit, um ihn zu verstehen. Erst wenn sich in uns etwas bewegt, wenn er uns einige Tage, vielleicht sogar Jahre beschäftigt, geht er uns auf, können wir ihn von innen her wie von selbst bejahen. Es braucht einen Werdegang des Verstehens, und dieser ist zugleich ein Prozess der Wandlung. Krankheit und Tod sind so etwas so Einschneidendes, dass wir die Nachricht davon erst langsam annehmen können. Das Zögern Jesu, hinzugehen und seinen Freund zu heilen, mag etwas von dieser Wahrheit ausdrücken. Jesus scheint vom Ernst der Situation zunächst nicht berührt zu sein. Die Krankheit sei zur Verherrlichung Gottes. Kritiker würden ihm vorwerfen, er mache den Tod seines Freundes zum Instrument seiner Verkündigung . Es wäre eine schreckliche Vorstellung. Doch da stehen die Sätze: "Er war im Innersten erregt und erschüttert" und "Da weinte Jesus" (Johannes 11,35). Ein Hinweis, wie sehr der Tod ihm nahe geht, in welchem Ausmaß Jesus auch zu den Trauernden an einem Grab gehört.
Das Gewaltige, das geschieht, ist nicht ohne den tiefsten Punkt der Seele zu denken und braucht ein Eintauchen eine andere Dimension. Wenn Jesus, der menschlich Starke und Überlegene, weint, dann kündigt sich etwas Großes an. Die Herrlichkeit Gottes, von der die Rede ist, ist nicht ohne innerste Beteiligung, ohne Erschütterung des Seelenhauses zu erfahren. Wir wehren uns dagegen, weil es uns Schmerz verursacht, uns aus der Ruhe reißt und uns ganz in Beschlag nimmt.
Skepsis und Zweifel, die gerade bei einer solchen Erzählung auftauchen, sind deshalb als Abwehrsysteme, mit denen man sich vor solchen Erlebnissen schützen will, zu betrachten. Wenn wir je etwas verstehen wollen von der Botschaft Jesu, dann nur über unsere eigene Lebensgeschichte. Das heißt wir sollten uns fragen: wo war ich selbst zuinnerst berührt und erschüttert oder auch beglückt? Von Personen, die Sterbende begleiten, kann man hören, dass der Tod die Atmosphäre im Raum bestimmt und gewandelt hat. Sie beschreiben diesen tiefsten Vorgang als ein erfüllendes froh machendes Erlebnis. Deshalb findet die Hospizbewegung, die diese Aufgabe übernommen hat, genügend Mitarbeiter. Solange wir uns aber mit unserer eigenen Erfahrung draußen halten, wird uns das Wort Jesu vom ewigen Leben fremd bleiben. Besser ist es deshalb, die Einwände für einen Moment zurück zu stellen und den gesamten Bogen der Erzählung von der ersten Nachricht der Krankheit über die Begegnung mit den Schwestern des Verstorbenen bis zu dem Punkt, wo Lazarus aus dem Grab kommt, auf uns einmal ungefiltert wirken zu lassen. Nur so kann uns die Aussage vom ewigen Leben aufgehen. Es öffnet sich eine neue Sicht des Daseins, welche den Rahmen unseres bisherigen Denkens sprengt. Stellen wir uns einmal vor, wir seien ein Mensch, der davon voll und ganz von den Vorgängen um Jesus ergriffen ist, was alles würde sich in unserem Leben umkehren? Man hat der christlichen Verkündigung vorgehalten, sie würde vom Glück in dieser Welt ablenken und auf das Jenseits vertrösten. Dem Vorwurf ist ernsthaft nachzugehen. In der traditionellen Frömmigkeit wird Ewiges Leben gleichbedeutend mit "Himmel" gebraucht, ein Ereignis, das sich erst nach dem Tod vollzieht. Man denkt an die Belohnung für ein gerechtes, tugendhaftes Leben, für die Mühen, die man auf sich genommen hat, an eine Art Kompensation für erlittenes Unrecht, an ein paradiesisches Dasein. Man stellt sich vor, dass einem nun der Lohn ausbezahlt wird. Die Auffassung darf man nicht einfach missachten oder verwerfen, aber sie ist einseitig und trifft nicht den Kern. Zunächst gilt es, beim Begriff "ewig" ein Missverständnis auszuräumen. Die Ewigkeit stellt man sich gewöhnlich als eine unendlich lange, nie aufhörende Zeit vor. Ewigkeit hat aber gar keine Zeit. Ewigkeit ist zeitlos. Es gibt nur ein immerwährendes Jetzt. Was könnte damit gemeint sein? Es gibt die Zeitlosigkeit in den Schöpfungen und Aussagen von Menschen, welche das Leben von der Rückseite statt vom blendenden Augenschein, von der Tiefe statt von der Oberfläche, vom Wesentlichen statt vom Vordergründigen gesehen haben. Es sind die Dichter, Philosophen, die großen Religionsstifter, die Heiligen und Jesus.
Ein Gregorianischer Choral oder eine Cantate von Bach kann uns heute noch so ergreifen wie vor 700 oder 300 Jahren. Der Sonnengesang des heiligen Franziskus kann uns auch heute noch in seine Erlebniswelt führen. Da spielt der Abstand der Zeit keine Rolle. Es kann sehr beglückend sein, die geistigen Schöpfungen aus unserer oder vergangener Zeit auf uns wirken zu lassen. Verbunden ist damit eine tiefere Einsicht in den Sinngehalt unseres Lebens. Wir werden nachdenklicher, gefasster, hoffnungsfroher und gütiger gegenüber anderen Menschen. Wir reagieren dabei mit dem Bereich unserer Persönlichkeit, der nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe unserer Seele liegt. Wer sich auf eine solche Erfahrung einlässt, gewinnt den Eindruck, in Kontakt mit dem bisher unbewussten Teil seiner Existenz in Berührung gekommen zu sein, mehr er/sie selbst geworden zu sein, mehr im Hier und Jetzt zu leben. Nun ist aber jener Teil der Seele, der in die Ewigkeit reicht nicht unmittelbar zugänglich, er kann wie in einer Grabeshöhle ganz tief verschlossen sein. Er kann als die innere Dunkelheit einen Menschen immer wieder ins Unglück stürzen. Wem es geschenkt wird, ihn zu erhellen, wem ein inneres Licht aufgeht, mit dem geschieht Ähnliches wie mit Lazarus. Er wird aus einem inneren Grab gerufen. Es ist am Wesentlichen, am Wichtigsten und Kostbarsten, an dem er bisher vorbei gelebt hatte, angekommen. Es ist der Augenblick, wo man sich verstanden und aufgehoben weiß, wo man gar nicht an die Zukunft zu denken braucht, wo einem die Gewissheit zuteilwird: Ja, das ist es, was ich ein ganzes Leben gesucht habe. Jetzt geht alles zusammen, jetzt ist es einfach gut und schön- wie wunderbar!
Eine Frau drückt es so aus, nachdem sie aus dem Grab einer Depression herauskam: Jetzt möchte ich mein Leben noch einmal anfangen.
Wenn das innere Grab geöffnet wird, verliert das, vor dem wir stehen, an Bedeutung und darf sein eigenes Schicksal nehmen.