Der kraftlose Heiland - Jesus der Mann der Kraft

 

Was macht  krank?-- Falsche Einstellung zum Leben

Während die moderne Medizin mit äußeren Mitteln in die physiologischen Abläufe einzugreifen versucht, geht es in der indianischen Heilkunst um die Beseitigung der Ursache, die in der gestörten Weltharmonie gesehen wird. Der Kranke - der einzelne oder auch der ganze Stamm - ist aus dieser Harmonie von Mensch, Kosmos und Schöpfung herausgefallen und muss wieder zurück gebracht werden. Anders ausgedrückt: Die indianischen Heiler verfügen über die Kraft, in die Schichten des Unbewussten einzugreifen, wo Körperliches, Psychisches und Spirituelles einander berühren. Von dorther, vom Seelengrund, geschieht denn auch eine Wandlung des ganzen Menschen.
Ein Amerikaner beschreibt den Unterschied zwischen einem weißen Arzt und einem indianischen Heiler wie folgt: Wenn ich einen Menschen heile, bin ich ein guter Arzt. Wenn ich einen Menschen heile und ihm helfe, seinen Platz im Universum zu verstehen, bin ich ein Heiler. Um es plakativ zu sagen: Ein Arzt heilt das Symptom, ein Heiler verändert die Einstellung zur Krankheit, zum Leben und zum Tod, den ganzen Menschen.
Entscheidend sind die psychischen Vorgänge, die durch eine Heilungszeremonie ausgelöst werden. Der Kranke ist in der Tiefe seiner Existenz herausgefordert, und auf dieser Ebene soll er auch reagieren. Hier berühren sich die ganzheitliche Betrachtung von Gesundheit und Krankheit einer Jahrtausende alten Tradition und die Heilungen Jesu, die wesentlich existentielle Begegnungen sind. Die moderne psychosomatische Medizin spricht heute dem psychisch - geistigen Faktor (wie dem Vertrauen in den behandelnden Arzt, der Bearbeitung von Lebensproblemen, der allgemeinen Atmosphäre) eine reale gesundmachende Bedeutung zu, obwohl die Praxis eher noch von der rein naturwissenschaftlich - technischen Auffassung geprägt ist. Nachgewiesen sind physiologische Zusammenhänge von psychischer Verfassung und dem Immunsystem des Körpers; positive Einstellung stärkt die Abwehr. Eine wichtige Rolle spielt auch der sogenannte Placebo - Effekt. Dem Patienten wird ein Scheinmedikament verabreicht, welches aber aufgrund des Glaubens daran durchaus positive Wirkungen zeigt. Es ist sogar nachgewiesen, daß Stoffe, die vermeintlich - nicht in Wirklichkeit! - zugeführt wurden, tatsächlich im Blut des Patienten in erhöhter Konzentration vorkommen d.h. daß sie aufgrund seiner Vorstellung vom Körper gebildet werden.

 der Heiler  Jesus

Zunächst müssen wir uns noch einmal den Wunderheilungen Jesu zuwenden. Sie gehören zum Wesentlichen seines Wirkens. Nach dem Evangelisten Matthäus sieht Jesus selbst sie als Zeichen, daß mit ihm die Messiasherrschaft angebrochen ist. „Geht hin und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: „Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören, Tote stehen auf, und Arme empfangen die Frohe Botschaft." Selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt." (Mt 11,4 - 6).
Nun ist es aber so, daß sich die Menschen unserer Zeit gerade an jenen Ereignissen reiben.
Als bei einem Gottesdienst mit jungen Leuten eine Heilungsgeschichte zu hören war, brachte ein Schüler seine Skepsis mit der Frage zum Ausdruck; was es denn soll, ein solches Märchen vorzulesen? Woran liegt es, daß von heutigen Menschen das Wunderbare, das Außerordentliche, das ehemals zum Glauben geführt hat, eher als Hindernis erfahren wird?
In den älteren katholischen Bibelkommentaren werden die Heilungswunder Jesu als Beweis seines göttlichen Auftrags und seiner Gottesherrschaft gesehen. Kritische Menschen unserer Tage können diesem Gedankengang nicht folgen. Es kann sogar sein, daß Wunder Jesus in weite Ferne rücken einmal, weil solche Erscheinungen nicht in das wissenschaftliche Weltbild passen; man müßte ja seinem gesunden Menschenverstand abschwören, wenn man das glauben wollte, meinen viele.
Gerade weil die Wunder als Aufhebung der Naturgesetze in göttlicher Vollmacht verstanden wurden und als Begründung des Absolutheitsanspruchs und als Beweis der Gottheit Christi dienten, hat sich für viele um die außerordentlichen Ereignisse im Leben Jesu eine unüberwindbare Sperre aufgebaut. Selbst im Raum der Theologie ist man heute bestrebt, das „Ärgernis der Wunder", die eher als Hindernis denn als Stütze des Glaubens empfunden werden, möglichst zu reduzieren im Sinne der Aufklärung, die sogenannte übernatürliche Vorkommnisse auf natürliche Ursachen zurückzuführen versucht. Zudem betrachtet die historisch - kritische Exegese die Heilungsgeschichten eher als Aussagemittel der frühchristlichen Verkündigung denn als historische Berichte.
Bei aller kritischen Forschung steht doch fest, daß vieles von dem, was von den Schamanen (Medizinmännern) gesagt wurde, auch auf Jesus zutrifft. Heilende Kraft, Visionen, Heilung und Wandlung des ganzen Menschen, Wiederherstellung der Einheit von Mensch und Gott sind Elemente, die im Leben Jesu als zentrale Ereignisse vorkommen. Die Heilung eines Gelähmten (Lk 5,17 - 26) wird eingeleitet mit dem Satz: „da überkam ihn die Kraft des Herrn zu heilen"(Lk 5,17). Und noch an vielen anderen Stellen ist davon die Rede, daß eine Kraft von ihm ausgeht, die heilt (Lk 6, 19), und, daß er dieses Ausgehen spürt (Lk 8, 46). Auch Jesus hatte zu Beginn seines Wirkens eine Vision, die ihm die innigste Nähe zu Gott und damit zur Mitte der Welt aufzeigte (Mk 1,11). Auch er ging in die Stille der Wüste und setzte sich dem Umgang mit den wilden Tieren aus (Mk 1, 12).
Es fällt auf, daß Jesus, bevor er den Gelähmten zum Aufstehen auffordert, die Vergebung der Sünden ausspricht (Lk 5, 20). Sünde ist aber ein anderes Wort für die Störung der Harmonie mit Gott, mit sich selbst und mit der Welt um sich herum. Darauf weist auch die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes „Hamartia" hin, was nichts anderes als Verfehlung heißt.
Die Parallelen zwischen Jesus und den indianischen Heilern müssen unseren Glauben an die Gottheit und Einmaligkeit Jesu nicht entwerten. Sie sind eigentlich nur der konsequente Ausdruck für die Menschwerdung Gottes, für die Tatsache, daß sein heilendes Tun die Gestalt der Menschen annahm (Phil. 2, 7).
Es geht nicht darum, das Wirken nichtchristlicher „Wundertäter" in Konkurrenz zu Jesus zu sehen; vielmehr ist es hilfreich, auf der menschlichen Folie eines indianischen Schamanen die Wunder Jesu unserem Verstehen zu öffnen, indem aufgezeigt wird, daß die seelische Kraft über physiologische Abläufe auf den Körper Einfluß hat.
Wir sollten weniger abstrakte theologische Begriffe in den Vordergrund stellen, sondern (wie z.B. Schwarzer Hirsch) vom einfachen Erleben ausgehen und erhöhte Aufmerksamkeit auf das seelische Geschehen lenken; nämlich darauf, was in den Menschen um Jesus und in ihm selbst vorgeht; wie sich Angst und Schmerz in Zuversicht und Freude umkehren; wie sich emotionale Abläufe gegenseitig beeinflussen.
Wir werden den Heiligen Schriften dann gerecht, wenn wir uns wie Jesus für das Schicksal der Menschen interessieren und fragen, was sich denn in ihnen abspielte, als sie von Jesus geheilt wurden. Wenn wir die Menschwerdung Gottes ernst nehmen, dann müßte es auch möglich sein, uns in Jesus selbst hineinzudenken. Allerdings setzt dies einen Erlebnisraum voraus, der dem von Jesus wenigstens annähernd ähnlich ist. Wir müssen vermeiden, mit theologischen Fachausdrücken wie „göttliche Vollmacht", „Messianität", „Königsherrschaft Gottes" die Geschehnisse erklären zu wollen und dabei Unverständnis zu ernten; denn solche Begriffe bedürfen selbst der Erklärung, mehr noch der Erfahrung.

Glaube - die Innenseite der Wunder

Es führt nicht weiter zu diskutieren, ob bei den Wundern Jesu Naturgesetze aufgehoben wurden, oder zu beweisen, daß Jesus mit der Allmacht Gottes ausgestattet war. Gerade eine Argumentation dieser Art löst Widerstände aus. Besser ist es, die Innenseite dieser Ereignisse anzuschauen, und damit öffnet sich auch das Innere unserer Gesprächspartner. Das zentrale Wort für das Gemeinte heißt in den Evangelien: Glaube.
Den Glauben, den die Evangelien meinen, können wir etwa so umschreiben: Es öffnet sich ein Raum zwischen Jesus und den Hilfsbedürftigen und denen, die mit ihm gehen, in dem die Beteiligten aufatmen und sich wohl fühlen. Wir können auch heute erleben, daß die Anwesenheit eines Menschen oder die Atmosphäre einer Gruppe einfach gut tut, in der wir uns sicher erleben, wenn wir sagen, wie es um uns steht; wo Blockaden sich lösen und auch über Bedrückendes ausgesprochen werden darf; wo wir Überzeugungen austauschen können; in der die Gewißheit, in allem, was uns wichtig ist, verstanden zu werden. Es ist eine Nähe und Durchlässigkeit von Person zu Person, die auch körperliche Berührung miteinschließt; so wenn Jesus dem Taubstummen die Hand auflegt, sogar seinen Speichel in dessen Mund legt (Mk 7, 32 - 37) und wenn er sich selbst von einer Frau mit schlechtem Ruf die Füße küssen und sie mit ihren Tränen und ihrem Haar bedecken läßt (Lk 7, 36 - 50).
Dabei sollte bedacht werden, daß Tränen und aufgelöstes Haar Ausdruck intensivster Emotionalität und höchster existentieller Bewegtheit sind. Jesus läßt sich die körperliche Berührung gefallen, weil er die Offenheit ihres Wesens spürt. Was zwischen ihm und der Frau geschieht, nennt Jesus Glaube.
Denken wir auch an die Heilung eines gelähmten Mannes in Kapharnaum (Mk 2, 1 - 12), der blutflüssigen Frau und an die Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers (Lk 8,40 - 56), an die Heilung des blinden Bartimäus (Lk 18,35 - 43) und an die vielen anderen Perikopen, so ist die Antwort auf die Frage nach dem entscheidenden Moment des wunderbaren Ereignisses der eine Satz Jesu: „Dein Glaube hat dir geholfen." (Lk 18,42).
Es herrscht heute allgemeines Einverständnis, daß es sich dabei nicht um dogmatischen Glauben handelt, etwa in dem Sinn, daß die Geheilten an die Gottessohnschaft Jesu geglaubt hätten, sondern es geht um einen ganz und gar existentiellen Vollzug im Sinne von Vertrauen. Selbst dieser Begriff ist schon zu häufig gebraucht und bedarf einer Entschlüsselung.

 

Begegnung nicht Behandlung

Vieles von dem, was hier mit Glaube umschrieben wurde, hat seine Entsprechung in dem von Martin Buber geprägten Begriff der Begegnung.
Für Buber ist die pädagogische Begegnung, die Ich - Du Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, Grundlage pädagogischer Einwirkung. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung," so Buber wörtlich, ..... der andere muß nur in seiner Potentialität erschlossen werden und zwar im wesentlichen nicht durch Belehrung, sondern durch Begegnung, durch existentielle Kommunikation zwischen einem Seienden und einem Werdenkönnenden (4).
Übertragen auf die Situation Jesu und der Menschen, mit denen etwas geschah, bedeutet das: Jesus hat wesentlich durch existentielle Kommunikation auf die Menschen eingewirkt, also nicht nur mit Worten, sondern mit der Tiefe seiner Existenz. Die Worte kamen aus den Wurzeln seines Wesens und haben Menschen in ihrem Sein angesprochen, aufgerüttelt und bewegt. „Und es geschah, als Jesus diese Reden vollendet hatte, da waren die Scharen außer sich über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Macht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten". (Mt 7,28). So berichtet Matthäus über die Reaktion der Menschen auf die Bergpredigt und bestätigt, daß hier nicht Belehrung (im Sinne einer Wissensvermittlung), sondern Begegnung stattfand.
Begegnung ist einerseits die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung und andererseits die Wirkung zweier von einander unabhängiger Personen auf einander. Die gegenseitige Anregung und Herausforderung schafft bei beiden etwas Neues; es ist ein Geben und Nehmen auf der Ebene existentieller Betroffenheit.
Der eine wird buchstäblich von dem getroffen, was den (die) ander(e)n bewegt, und in ihm bricht etwas auf, was wieder zurückwirkt. Es geschieht auf einer Basis, auf der wir selbst nicht unmittelbar handeln, sondern eher nur zulassen können. Es ist dann immer die Frage: Was bei dem (der) einen löst was beim (bei der) anderen aus? Innere Ergriffenheit von etwas Großem, Erhabenen und Schönem - wir können auch sagen vom Religiösen - überträgt sich in einer guten Beziehung von selbst, besonders auch vom Redner auf die Zuhörer.
Wenden wir das Gesagte auf Jesus und die leidenden und hoffenden Menschen von damals an, dann heißt das: Die innere Befindlichkeit Jesu, die geistige Kraft seiner Persönlichkeit, sowie sein Berührt - und Gehaltensein von Gott, sein Heilsein wirkte sich auf die aus, die sich ihm öffneten. Eine personale Begegnung zeichnet sich dadurch aus, daß der eine den anderen an seiner inneren Welt teilhaben läßt. So wie sich für Jesus bei seiner Taufe der Himmel öffnete und er die volle Annahme und Einheit mit Gott erfuhr („Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen"), so tat sich auch für jeden, der Jesus im Glauben begegnete, der Himmel auf, d.h. das Glück der vollen Bestätigung und Annahme. Denken wir an den Zöllner Zachäus, den Jesus aus seiner Isolierung herausholt. Durch die Freude, die ihm widerfuhr, wurde er total verwandelt. Er konnte auf die Hälfte seines Vermögens verzichten und Betrügereien wieder gut machen. Er war von seiner Habsucht geheilt (Vgl. Lk 19, 1 - 20).

 

Der  volle Einsatz (Lk 8, 43 - 48)

Bei den Begegnungen Jesu mit den Leidenden interessiert, was auf der einen Seite - nämlich von den Hilfe - Suchenden - und was auf der anderen Seite - von Jesus - eingebracht und bewirkt wird.
Seitens der kranken, gestörten, von Leid heimgesuchten Menschen geschehen Erschütterungen, Einbrüche bis zu Todesnöten und vollste Hinwendung zu Jesus als einem letzten Rettungsanker; und er reagiert mit dem Grad an Zuwendung, mit dem er angesprochen wird.
Es sei noch einmal die Frau erwähnt, die im Gedränge Jesus berührt, um geheilt zu werden. (Vgl. Lk 8,43 - 48). Sie riskiert alles, sogar die Möglichkeit, vom Meister zurückgewiesen und als Gesetzesübertreterin bloßgestellt, eventuell sogar gesteinigt zu werden.
Erinnern wir uns an den blinden Bartimäus, der buchstäblich um sein Leben schrie gegen den Lärm und die Zurückweisung der Umstehenden und auf die Gefahr hin, dem Meister lästig zu fallen. Ähnlich verhielt es sich auch mit der Frau aus Syrophönizien (Mk 7,24 - 30, Mt 15,21 - 28). Sie, die gar kein Recht auf Jesu Wohltat hatte, drängte sich ihm auf, angetrieben von ihrem Schmerz, und diese Tat hat er ihr, genauso wie dem Blinden von Jericho, als Glaube bestätigt.
Was die Menschen in die Begegnung mit Jesus einbringen und was seine positive Reaktion auslöst, ist der Einsatz aller Kräfte und aller Aufmerksamkeit auf den einen Punkt hin, daß Jesus helfen kann. Es geht buchstäblich um alles oder nichts; es ist ein Einsatz, wo man alles gewinnen oder verlieren kann.
In der mittelalterlichen Alchemie, deren psychologische Bedeutung C. G. Jung erschloß, gab es den Spruch: Die Kunst erfordert den ganzen Menschen; es ist die Prozedur der Wandlung von Blei zu Gold oder die Herstellung des Steins der Weisen gemeint. Dem tieferen Sinne nach geht es aber um die Wandlung des Meisters, welcher die Prozedur ausführt. Den von der Alchemie geprägten Satz kann man deshalb so interpretieren: Die Wandlung und das Heilwerden als das letzte, kostbarste aber nur schwer zu erreichende Ziel erfordert ganzen Einsatz, alle Aufmerksamkeit und alle Kräfte; genau das, was Jesus als Glaube gelobt hat.
In einem gewaltigen Aufstand des Inneren, wie er in manchen dramatischen Szenen in den Evangelien geschildert wird (Vgl. die Heilung des mondsüchtigen Knaben Mt 17,19 ff), verdichtet sich alle Energie auf einen Punkt hin und schafft damit die Voraussetzung für eine endgültige innere Einheit, d.h. Heilung.
Erst, wenn wir uns ganz bewußt dem Leidensdruck stellen und die Zerrissenheit aushalten, erreichen wir den Wendepunkt, wo schöpferische Keime geweckt werden.
Das bedeutet für uns, die Verantwortung für unsere Befindlichkeit voll und ganz selbst übernehmen zu müssen, wenn wir Heilung von Gott erlangen wollen, und nicht andere, die Eltern, den Lebenspartner, die Gesellschaft, die Kirche für unser Unglücklichsein zu beschuldigen. Jesus stellte dem Gelähmten am Teich Bethesda, der seit 38 Jahren sein Gesundwerden von der Zuwendung anderer abhängig machte, die Frage: „Willst du gesund werden?(Joh 5, 6). Man müßte den Satz als banal empfinden - welcher Kranke möchte nicht gesund werden? -, würde nicht die Aufforderung folgen: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!" Damit sagt Jesus zugleich: Nimm dein Schicksal (Joh 5, 8) selbst in die Hand! Mach dich nicht abhängig vom guten oder schlechten Willen anderer, von deren Stimmung und Launen!

 

Der verwundete Heiler

So wie es auf der Seite der Kranken und Leidenden Bedingungen für eine Heilung gibt, so hat auch das heilende Tun Jesu seinen besonderen Charakter. Hier dürfen wir durchaus eine Parallele sehen zu den Bedingungen und Anforderungen, die eine ernstzunehmende Psychotherapie an den Therapeuten stellt. Nach C. G. Jung sollte der Arzt der lebendigen Ganzheit des Patienten mit seiner ganzen Persönlichkeit entgegentreten. Im Fall einer seelischen Krankheit ist das Mittel der Heilung kein anderes als der Arzt selbst; daß dies auch für den Seelsorger gilt, sei nebenbei nur kurz angemerkt. Das heilende Moment beginnt dann, wenn der Heiler anfängt, sich für den Leidenden ganz persönlich zu interessieren. Die Ärzte werden sogar aufgefordert zu fragen, welche Botschaft der Patient für sie selber bringt. „Was bedeutet er für mich? Wenn der Patient nichts für mich bedeutet, habe ich keinen Angriffspunkt. Nur wo der Arzt selber betroffen ist, wirkt er. „Nur der Verwundete heilt"... (5).
Wie war das nun mit Jesus? Er war der verwundete Heiler schon lange, bevor ihn römische Soldaten folterten, sogar noch bevor er an die Öffentlichkeit trat.
Die Versuchungsgeschichten und der Aufenthalt in der Wüste bei den wilden Tieren, die Auseinandersetzungen mit dem Teufel können nur andeuten, daß auch er zu den Leidenden gehörte und wußte, was es heißt, isoliert, unverstanden, „aussätzig" d.h. draußen, ausgestoßen und von Dämonen bedroht zu sein. Er selbst mußte durch Dunkelheit, Ängste, Zweifel und Einsamkeit.
Bei seiner Taufe, so berichtet Markus, öffnete sich der Himmel (Vgl. Mk 1,10) und wir dürfen hinzufügen: auch die Hölle; denn wer vom Teufel persönlich geplagt wird, für den tun sich nicht nur die Verlockungen, sondern auch die Schrecken der Hölle auf. Mit Himmel und Hölle sind intensivste Erfahrungen der Nähe und der Ferne Gottes gemeint, wie sie uns auch von großen Mystikern überliefert sind. Der heilige Ignatius erlebte beides in einer solch verwirrenden Fülle, daß er Kriterien zur Unterscheidung der Geister entwarf. Wer einen Menschen in seinem Prozeß begleitet, muß deshalb über Umsicht und Durchblick verfügen, daß er in der Enge der Beziehung nicht in jedes Loch mit hineintappt; daß er nicht von Gefühlen, die den anderen in Beschlag genommen haben, angesteckt und ebenso überwältigt wird; er muß den dargebotenen Konflikt, biblisch gesprochen den Dämon, in sich schon überwunden haben.
Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, daß Jesus diese Eigenschaften besaß; überragende Kraft ist das wesentliche Kennzeichen seiner Persönlichkeit. Besonders Markus schildert ihn als den, der die Dämonen herausfordert und ihnen überlegen ist (Vgl. Mk 1,21 - 28, Mk 3,22 - 30). Jesus macht die Tatsache, daß er stärker ist, durch das Gleichnis vom Hausherrn und Einbrecher deutlich. Wenn der Wächter trotz all seiner Rüstung überwältigt wird, zeigt sich, daß der Räuber doch der Stärkere ist. Damit will Jesus sagen: Wenn schon offenkundig ist, daß der Dämon besiegt wurde, sollten die Schriftgelehrten auch zugeben, daß er die Macht hat, und ihn als den Mächtigeren anerkennen (Vgl. Mt 12,29, Mk 3,27, Lk 11, 21 - 22).
Hierin unterscheidet sich Jesus von den Schamanen, in denen die Angst vor bösen Geistern und deren unberechenbarem Treiben nicht erlischt.

 

Der bedingungslose Einsatz 

Jesus erfüllt - so viel kann man sagen - jene Forderung Jungs, daß der Psychotherapeut der lebendigen Ganzheit des Patienten mit seiner eigenen Persönlichkeit entgegentreten müsse; daß die persönliche Ausstrahlung des Therapeuten die heilende Kraft weckt und daß in der Heilkunst allein die schöpferische Persönlichkeit das Entscheidende ist (6).
Es lohnt sich genau hinzuschauen, wie Jesus auf die Bitten der Hilfesuchenden reagiert, wie er sich in die Begegnung eingebracht hat. Markus berichtet von der Heilung eines Aussätzigen: „Da kam ein Aussätziger zu ihm, fiel auf die Knie und bat ihn: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen." Voll Erbarmen streckte er die Hand aus und sprach zu ihm: Ich will, sei rein.!" (Mk 1,40 - 45). In einer anderen Textüberlieferung steht statt „er erbarmte sich" (splagnistheis) „er geriet in Zorn". Nach einer Regel der Textkritik sollte man die schwierigere Lesart bevorzugen. Drewermann meint, es sei wahrscheinlicher, daß beide Lesarten auf ein und dasselbe hebräische (oder aramäische) Wort zurück gehen, das ursprünglich „wejaham - „er erhitzte sich" lautete. Und er bemerkt dazu: „In jedem Falle wird deutlich, welch einer inneren Anspannung es bedarf, um sich auf eine Wunderheilung einzulassen." (7). Zugleich sollten wir nicht außer Acht lassen, daß das Wort „er berührte ihn" etwas von der bedingungslosen Zuwendung Jesu zum Kranken aussagt. Einen Aussätzigen zu berühren ist mehr als eine wohlwollende Geste; es wird hier eine Barriere durchbrochen, welche die Angst der Menschen errichtet und welche einen Kranken seines Menschseins beraubt hat. Berühren bedeutet in diesem Fall, dass eine Art Einheit und Gleichheit des Heilers mit dem Leidenden geschaffen wird.
Ganz auf dieser Linie liegt auch das Bekenntnis des hl. Franziskus in seinem Testament, daß er durch die Begegnung mit den Aussätzigen ein anderer Mensch wurde. „Als ich in Sünden lebte, kam es mich sehr bitter an, Aussätzige zu sehen. Aber der Herr selbst führte mich unter sie, und ich erwies ihnen Barmherzigkeit. Als ich von ihnen ging, ward mir dasjenige, was mir vorher bitter vorgekommen war, in Süßigkeit für den Geschmack des Leibes und der Seele verwandelt"(8).In diesem Zusammenhang dürfen wir auch die Stelle sehen, wo Jesus einen Taubstummen gesund macht. (Vgl. Mk 7,31 - 37). Die Berührung von Ohren und Mund ist weniger ein magischer Ritus als vielmehr ein Zeichen, daß Jesus diesem Menschen einen Raum der Nähe und Geborgenheit bietet und sich mit ihm so sehr gleichsetzt, daß er an seiner Stelle seufzt.
Es ist auch wichtig, sich die innere Bewegtheit Jesu beim Tod seines Freundes Lazarus und bei der anschließenden Auferweckung vorzustellen. Bei Johannes 11, 33f lesen wir: "Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die mit ihr kommenden Juden weinten, wurde er im Geiste tief erschüttert und voll innerer Erregung sprach er: „Wo habt ihr ihn hingelegt?" Sie antworteten ihm: „Komm, und sieh!" Jesus weinte. Abermals wurde Jesus in seinem Innern erschüttert und ging zum Grab." (Joh 11,33,35,38). Selbst wenn man die Einwände der modernen Forschung gegen die Historität dieser Erzählung gelten läßt, so dürfte doch die Schilderung der Gemütsbewegung Jesu der historischen Wirklichkeit entsprechen: tiefe Erschütterung, innere Erregung, Weinen um den Tod eines Freundes.
Ein weiterer Hinweis, wie sehr sich Jesus für das Schicksal von armen und unglücklichen Menschen eingesetzt hat, sind die Heilungen am Sabbat (Vgl. Mt 12,9 - 14, Lk 13,10 - 17, Lk 14,1 - 6). Er riskiert die Feindschaft der religiösen Obrigkeit, sogar sein Leben zu verlieren.
Fassen wir noch einmal zusammen, was Jesus in die Begegnung mit leidenden Menschen eingebracht hat: er ließ sich vom Schmerz der Menschen aufwühlen; er stellte sich mit dem ganzen Einsatz seiner Person dem Schicksal dieser Menschen entgegen; er bot einen Raum der vollen Sicherheit und Geborgenheit; er zeigte, wie viel mehr ihm ein Mensch wert war als das Gerede der Leute, als die Auffassung einer starren Tradition, als die Meinung der religiösen Obrigkeit, als die Drohungen, die an sein Leben gingen.
Jesus hat dem Menschen in Not wohl vermittelt: „Ich bin ganz für dich da. Dein Schicksal und das deines Kindes ist für mich so viel wichtiger als mein eigenes Leben". So wie sich die Hilfesuchenden ganz in ihren Hilfeschrei und in das Vertrauen fallen ließen, so hat ihnen Jesus mit seiner ganzen Existenz geantwortet.
In seinem Vortrag auf der evangelischen Pastoralkonferenz, 1932 in Straßburg, erklärt C. G. Jung den versammelten Seelsorgern, daß ein Arzt bzw. Seelsorger die Seele nur führen oder begleiten könne, wenn er mit ihr Fühlung habe. Diese Fühlung kommt nie zustande, wenn der Arzt verurteilt. Genauso wenig dürfe er dem Patienten gegen die eigene Überzeugung in allem unbesehen Recht geben. „Fühlung, d.h. das Einschwingen des eigenen Empfindens in das des anderen, entsteht nur durch vorurteilslose Objektivität... es ist etwas Menschliches, etwas wie eine Hochachtung vor der Tatsache, vor dem Menschen, der an dieser Tatsache leidet, vor dem Rätsel eines solchen Menschenlebens. Der wahrhaft religiöse Mensch hat diese Einstellung. Er weiß, daß Gott allerhand Wunderliches und Unbegreifliches erschaffen hat und auf den allerabsonderlichsten Wegen des Menschen Herz zu erreichen sucht. Deshalb fühlt er in allen Dingen die dunkle Gegenwart des göttlichen Willens. Unter „vorurteilsloser Objektivität" meine ich diese Einstellung" (9). Wir dürfen annehmen, dass Jesus dieser religiöse Mensch war, und sogar jeden noch so bemühten Arzt übertroffen hat. Hinter den dürftigen Worten: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden" (Lk 8,48) verbirgt sich jene Einstellung, die Jung mit seelischer Fühlung, Hochachtung vor dem Schicksal des einzelnen und Erahnen des Willens Gottes bezeichnet, und wir dürfen hinzufügen, dass sie mit ihrer Kraft bis in unsere Zeit herein leuchtet.
Die Wunderberichte sind Geschichten von äußerster Not, von tiefsten Erschütterungen, von dramatischen Ereignissen, mit denen Jesus sich konfrontieren lässt und die er zum Guten führt. In ihm ist die Intensität und Fülle der Kraft, mit welcher er die bedrohte Existenz der Hilfesuchenden auffängt.
Die Heilungen des Neuen Testaments sind mehr als Erfolge, die auch gute ärztliche Kunst mit den Methoden moderner Medizin hätte leisten können. Sie sind Neuheitserfahrungen, welche den eingeschliffenen Mechanismus der sich wiederholenden Enttäuschungen durchbrechen, die Grundeinstellung eines Geheilten umkehren und in ihm die Gewissheit wecken: mit dem Namen Jesus ist Verstehen, Nähe, Zuversicht, Fülle und Freude verbunden, und im Aussprechen dieses Namens ist eine Kraft, welche Verzweiflung, Einsamkeit, Angst und Sinnlosigkeit überwindet.

 

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