Wer ist  Anwalt von Sinn? 

Der (die) Seelsorger/in steht in der. säkularisierten Gesellschaft unter einem hohen Rechtferti-gungsdruck. Die Präsenz der Kirche in öffentlichen Institutionen wie Schule und Klinik wird nicht mehr als selbstverständlich hingenommen. Der (die) Krankenhausseelsorgerin) bzw.. der (die) Reli-gionslehrer(in), die Kirche als Institution müssen (ihre) Berechtigung nachweisen, vor allem wenn öffentliche Gelder mit im Spiel sind. Der Hinweis auf das ewige Heil, das die Kirche zu vermitteln hat, trägt in einer skeptizistischen, agnostischen Umgebung nicht. Noch weniger die Berufung auf die Offenbarung und den göttlichen Sendungsauftrag. Alle innerkirchlichen theologischen Argu-mente greifen nicht, wenn der Binnenraum der kirchlichen Grundüberzeugungen nicht mehr gege-ben ist. Die Rechtfertigung wird erst glaubwürdig, wenn es gelingt nachzuweisen, daß das, was wir als Kirche zu bieten haben, für den Menschen wichtig, von ihm gewünscht und zum Vollzug seines Lebens
im Hier und Jetzt heilsam ist. Als erstes ist hier das praktische Tun gefragt, d.h. es muß unmittelbar erlebbar sein.
Als zweites muß bei einer theoretischen Überlegung, die sich an Außenstehende wendet, die her-kömmliche theologische Diktion verlassen werden, weil sonst sofort eine Sprachbarriere entsteht. Um es noch einfacher zu sagen: es sollte eindeutig klar werden, daß es im Bemühen der Kirche um den Menschen geht, ganz gleich welcher Konfession, Religion oder Weltanschauung er angehört.
Sinn als grenzüberschreitender Begriff
Was heute bei Außenstehenden durchaus ankommt und Interesse findet, ist das Thema „Sinn". Auf den Treffen einer freiwilligen Arbeitsgruppe (Peergruppe) wurde von den Teilnehmern, von denen die meisten außerhalb der Kirche standen, immer dann mein Name sie wußten, daß ich Priester bin genannt, wenn das Thema „Sinn" aufkam. Ich sehe darin einen Hinweis, daß man in einer säkula-risierten Gesellschaft von der Kirche durchaus noch eine Antwort auf die Sinnfrage erwartet. Nur: wie kann ich als Seelsorger diese Antwort „rüber" bringen, ohne daß ich aufgrund eines vermeintli-chen Verkündigungsauftrages durch fertige theologische Begrifflichkeiten die Offenheit der Situati-on sofort wieder zuschütte?
Zunächst einige Überlegungen zum „Sinn". Das auffallendste ist, daß Sinn nicht machbar ist, daß er nicht unmittelbar unserem analysierenden Verstand und Willen zugänglich ist. Er gehört einem Bereich an, der eher über uns verfügt, als wir über ihn. Es ist der Raum des Erlebens, der Gefühle und der Befindlichkeiten. Wir dürfen sogar sagen, daß diese Dimension unseres Seins eine Eigen-tätigkeit und eigene Dynamik hat, die zu den rationalen Abläufen unseres Denkens und Tuns oft sogar konträr sind.
Um das Ganze anschaulicher zu machen einige Beispiele aus der seelsorglichen Tätigkeit.
Eine junge Frau, 35, zwei Kinder, kommt und erzählt weinend: „Mein Mann hat sich in eine andere verliebt. Mir wirft er vor, ich würde ihn nur daran hindern zu leben. Ich sollte nicht ständig die eifer-süchtige Ehefrau spielen! Für mich ist das die Hölle. Ich sehe keinen Sinn mehr in meinem Leben!"
eine zweite Situation:
Ich werde zur Mutter eines Erstkommunionkindes gerufen. Die Frau (etwa 40) ist schon seit Jahren halbseitig gelähmt, kann nur das Allernötigste tun. Ich werde gefragt: Welchen Sinn soll das Ganze haben? (Ich habe damals angefangen, die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens zu erklä-ren Sie sagte: Das habe sie schon oft gehört und es habe ihr doch nicht geholfen!)
Ein drittes Beispiel:
Ich werde zu einem jungen Mann gerufen, der an Lungenkrebs leidet, unheilbar. Ich werde von ihm, von der Mutter, vom Vater, von den Freunden gefragt: Welchen Sinn soll das Ganze haben?
Der Erlebnischarakter von Sinn
Um zu einer Antwort zu kommen, ist zunächst einmal wichtig, auf die Erfahrung hinzuweisen, daß Sinn wesentlich im Erlebnisbereich, erst sekundär im aktiven rationalen abstrakten Denken, behei-matet ist. Das heißt, es ist zunächst das Gefühl, welches Vorhandensein oder Abwesenheit von Sinn anzeigt. Meistens ist es der maßlose Schmerz, der die Frage nach dem Sinn aufwirft, immer häufiger aber auch ein stumpfes Unbehagen und Antriebslosigkeit. Umgekehrt, wenn Sinn vor-handen ist, zeigt es sich in der Freude am Leben, im Antrieb und in guten Einfällen zum Tun. Man wird fast wie von einer Welle getragen.
Das Gesagte bedeutet nun: Um die Sinnfrage bei einem Menschen aufzugreifen, muß ich mich als Seelsorgerin) als erstes auf die Ebene der Gefühle begeben, d.h. den Schmerz eines Menschen aushalten, diesen ausreden und ausklagen lassen, mitfühlen, ohne mitgerissen zu werden. Ich kann den Prozeß der Sinnfindung auf diese Weise anregen und begleiten im festen Vertrauen, daß sich der Sinn von innen her offenbart.
Den verlorengegangenen Sinn kann ich nämlich nie durch eine direkte informative Aussage vermit-teln; etwa: der Sinn ist Jesus Christus, der gelitten hat und auferstanden ist! Vielmehr muß die Ant-wort auf die Grundfragen des Lebens jeder einzelne durch einen Suchprozeß selbst erfahren; sie muß ihm innerlich aufgehen! Ob ein Mensch in dieser Situation zur Sinn Antwort vorstößt, hängt davon ab: wie tief, wie echt sich der Seelsorger in die Situation des Leidenden bzw. Trauernden ein-läßt.
Erst damit werden die Voraussetzungen geschaffen, daß eine Wende der Gefühle eintritt; daß sich die Stimmungslage verändert. Dies wirkt sich dann auf alle Bereiche der seelischgeistigen Verfaßt-heit aus: statt pauschale Verneinung der Wirklichkeit eine differenzierte Betrachtung, statt totale Mutlosigkeit neue positive Lebensinhalte, statt Hoffnungslosigkeit und Panik Gelassenheit und Zu-versicht. Der Seelsorger, der einen Sinn Suchenden begleitet, darf davon ausgehen, daß Sinn eine Eigentätigkeit und eine eigene Dynamik hat. Er darf den Logos am Werk sehen, „durch den alles geschaffen ist" und „der jeden Menschen erleuchtet". (vgl. Johannes1,3,9)
Es braucht so etwas wie eine tiefe gefühlsmäßige Berührung. Findet ein solches Erleben in einer seelsorglichen Situation statt, tritt ein Ergriffensein vom Unbedingten ein, dann werden die Fragen, die vorher so bedrängend waren, nicht mehr gestellt z.B. was soll mein Leben noch für einen Sinn haben? Das Ergriffensein und das Verstandenwerden tragen den Sinn in sich.
So wichtig das Ernstnehmen der Gefühle ist, so notwendig ist es zu betonen, daß Sinn im geistigen Erleben seine Wurzeln hat. Hinter der Triebdynamik, die einst Sigmund Freud entdeckte und die heute zum Allgemeingut der „psychologisch Aufgeklärten" gehört, steht eine Geistesdynamik. Und diese ist stärker als der Schmerz einer zerbrochenen Bindung und aller dadurch ausgelösten Emo-tionen.
Es ist die christliche Überzeugung, daß das Leben jedes Menschen auf Sinn, d. h. auf Heilsein an-gelegt ist trotz aller Gebrochenheit der inneren und äußeren Vorgegebenheiten.
Diese Grundannahme unseres Glaubens findet ihre Bestätigung in den psychotherapeutischen Richtungen von Viktor Frankl und Carl Gustav Jung'. Es ist die Suche nach Sinn, welche beide un-abhängig voneinander als wirkende und bestimmende psychische Macht bei ihren Patienten wahr-genommen haben. Jung geht sogar soweit, einen religiösen Trieb zu postulieren und zu sagen, daß die Probleme der Menschen unserer Zeit primär in der Verdrängung des geistigen Erlebens liegen. Seine Sicht der Dinge läßt sich auf die kurze Formel bringen: Nicht der Trieb ist verdrängt, sondern der Geist. Gemeint ist damit nicht der kalte analysierende Intellekt, sondern die sinnstiftende, schöp-ferische Intuition.
Der kirchliche Ritus als Sinn Angebot
Die Sinnfrage stellt sich nicht nur in größter seelischer Not, sondern immer dann, wenn Menschen im Innersten betroffen, aufgewühlt oder erschüttert sind. Diese Momente sind außer Lebenskrisen, Geburt, Hochzeit, Tod.
Vom Priester wird in dieser Situation mehr erwartet als bloßes zuhören; er soll in der Öffentlichkeit einen Ritus zelebrieren, der die augenblicklichen Situation ausspricht. Viele Priester kommen sich ausgenutzt vor von solchen, die nie etwas mit der Kirche zu tun haben, aber für solche Fälle z.B. für eine feierliche Hochzeit höchste Ansprüche stellen.
Wir dürfen allerdings davon ausgehen, daß in allem, was Menschen zuinnerst bewegt wo es also nicht unmittelbar um Geld, Ansehen, Leistung geht die Sinnfrage berührt ist, und zwar in ihrer transzendenten spirituellen Dimension.
Wenn wir davon ausgehen, daß Glaube in der Mitte und Tiefe der Person seinen Ort hat, daß er nach Paul Tillich das "Ergriffensein von dem, was mich unbedingt angeht" ist, so kann die feierliche Handlung, die dem Erleben und Ergriffensein einen Raum gibt und Ausdruck verleiht, sowohl ein Beitrag zur Sinndimension der Beteiligten als auch ein Schritt zum Glauben werden. Entscheidend wird sein, inwieweit es dem Seelsorger gelingt, die Erlebnisstruktur, z.B. des Brautpaares und der Eltern, aufzugreifen und zum Thema zu machen.
Im Zusammenhang mit einer Feier der Geburt eines Kindes erging es mir so: eine Frau, von Haus aus evangelisch, ohne Kontakt mit ihrer Kirche, bat mich aus Anlaß der Geburt ihres Kindes um ei-ne religiöse Handlung. Sie spürte im Innersten, daß hier etwas Religiöses anstand. Eine Taufe war ausgeschlossen. Wir einigten uns auf eine feierliche Segnung des Kindes. Die Feier wurde so dicht, so innig und so erschütternd, wie ich es bei keiner Taufe erlebt hatte.
Es gelang, dem emotionalen Empfinden und der Sehnsucht nach dem Spirituellen einen entspre-chenden Ausdruck im Ritual zu geben. (die Auswahl der Lieder, Lesungen, das Anzünden einer Kerze, Handauflegung und Aussprechen der Wünsche für das Kind). Es entstand eine Atmosphä-re, die von großer Dankbarkeit gegenüber dem Leben und gegenüber dem Schöpfer (wenigstens implizit) erfüllt war. In dieser Dichte des Erlebens ist Erfahrung von Sinn.
Ein weiteres Beispiel:
Ein Verwandter lädt mich ein, die Taufe für sein Kind aus zweiter Ehe zu halten. Er hatte eine riesi-ge Taufgesellschaft eingeladen, seine Arbeitskollegen und Freunde. Meine Anwesenheit war ihm sehr wichtig. Mir kam das Fest aus diesem Anlaß etwas zu aufwendig vor. Erst im Nachhinein habe ich die Bedeutung des Anlasses richtig wahrgenommen. Seine erste Frau hatte ihn verlasen; sein Sohn aus dieser Ehe war beim Baden ertrunken.
Das Schicksal dieses Mannes läßt den Aufwand eher verstehen. Er wollte mit seinen Freunden und seinen Bekannten sein neues Glück feiern: die Nähe eines Menschen, einer Frau und das Geschenk eines neuen Lebens.
Werde ich nun als Priester mißbraucht zumal die kirchliche Ordnung durcheinandergerät? Oder achte ich das Schicksal dieses Mannes und freue mich mit Ihm?
Je tiefer die Freude, je tiefer die Ergriffenheit, um so eher findet ein solcher Mensch den Glauben an das Leben und an Gott. Warum sollten wir nicht auf diese Weise Diener der Freude der Men-schen sein und damit kompetente Anwälte von Sinn!
Die Sinn erschließende Kompetenz erwerben _
Die Fähigkeit, als Seelsorger(in) Anwalt von Sinn auch für Nicht Kirchliche zu sein, ist weder mit dem Abschluß einer akademischen Ausbildung noch mit der kirchlichen Beauftragung gegeben. Sie hängt ganz und gar davon ab, inwieweit einer(r), der (die) Sinn vermitteln will, sich selbst den Lebensprozessen aussetzt und seinen/ihren Weg findet. Es erweist sich immer wieder, daß solche Personen, die durch Schweres hindurchgegangen sind, von selbst Anlaufstellen für viele Ratlose und Gescheiterte werden.
Oft sind es gar keine offiziell beauftragten Seelsorger oder haben gar keine Ausbildung in beraten-der Seelsorge. Das Leben selbst ist die beste Schule und die ist nicht immer leicht. Das entschei-dende Kriterium ist die Fähigkeit, Erlebnisabläufe, ob es sich um enttäuschte Hoffnungen, Sehn-süchte oder auch Leidenschaften und Glück handelt, nachzuvollziehen, weil man diese Erlebnis-räume auch bei sich kennt. Vor allem aber ist es die Achtung und der Respekt vor dem Schicksal und der Entscheidung des einzelnen. Den anderen ernst zu nehmen, ist aber nur dann möglich, wenn ich mich selbst, d.h. meine Gefühle und die Einmaligkeit meiner Lebensgeschichte zulasse.
Dies widerspricht allerdings der in der Kirche vorherrschenden Auffassung, die vorzüglich nur Ein und Unterordnung und Anpassung an 1% die bestehenden Verhältnisse' und Normierungen for-dert. Hier liegt die Schwäche der heutigen kirchlichen Pastoral und die Unfähigkeit, einer säkulari-sierten Gesellschaft kraftvoll und wirksam entgegenzutreten, begründet. Aus Sorge um das große Ganze des Glaubens, der Kirche und der Menschen, denkt man , müsse der einzelne auf die Wahrnehmung seiner inneren Impulse und seiner Entfaltung verzichten. Dabei wird vergessen, daß Sinn nur dann universal wird, d.h. auf andere rüberkommt, wenn er höchst individuell ist. Konk-ret heißt das: um den Sinn in ausweglosen Situationen ein Tor zu öffnen, muß der (die) Berater(in) erst selbst durch ein solches Tor gegangen sein. Erst dies macht seine/ihre Kraft und Tiefe aus, welche Vertrauen schaffen.
Der Lebensweg beginnt dann individuell zu werden, wenn ich den in mir bestehenden Leidens-druck und die damit verbundene Problematik bewußt anschaue, zulasse und zu bewältigen versu-che und wenn ich sie nicht mehr auf Autoritäten und Strukturen oder auf Andersdenkende, auf wirkliche oder angebliche Feinde, abschiebe.
Diese innerste Betroffenheit ist es, die mich mit Sinnverlust und neuer Sinnerfahrung zusammen-bringt. In der Sprache des Evangeliums ausgedrückt heißt das: „Wer mir nachfolgen will" d.h. wer ähnlich wie ich so segensreich für die Menschen wirken und Gott so nahekommen will „verleugne sich selbst, er nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Markus 8, 34).
Anmerkungen
1. Vgl.. C.G. Jung G.W. 11,365; Viktor Frankl: Der Wille zum Sinn. Bern, Stuttgart, Wien 1972
2. Paul Tillich, Ges. Werke Bd. VIII S142
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