Arra

Westliche Sinnkrise - Östliche Weisheit

Neue Luft zum Atmen
„Uns geht die Luft aus!« könnte manch enttäuschter Pfarrer im Hinblick auf die Situation der Kirche sagen und mit ihm viele andere. »Wenn schon Religion, dann Buddhismus!« kann man in aufgeklärten Kreisen hören, die dem Christentum ablehnend, sogar feindlich gegenüberstehen. Darin drückt sich das Lebensgefühl des postmoder¬nen Menschen aus, der die christliche Tradition hinter sich gelassen hat, aber durchaus aufgeschlossen ist für religiöse Erfahrungen. Es gehört zum guten Ton, in einem Ashram in Indien gewesen zu sein oder in einem Zen-Kloster in Japan. Man will Religion pur erleben. Es gibt in unserem Land vermehrt buddhistische Zentren und spirituelle An¬gebote im Stil östlicher Religionen, eine davon ist Sitzen im Stil des Zen. Die Anziehung, die Zen-Meditation ausübt,
kann nicht mehr übersehen werden.
Angebote der Kirche dagegen, Gottesdienste und Pre¬digt erscheinen zu verflacht, die Rede von Erlösung und Heil substanzlos und ohne überzeugende Kraft. Es ist nicht nur die Gleichgültigkeit, die Menschen aus der Kirche treibt. Es ist der Anspruch nach Lebensvertiefung und Authentizität, dem in den kirchlichen Veranstaltungen nicht genügt wird. Nicht Belehrung wird gesucht, sondern Erfahrung, konkrete Wege, welche die tiefere Sehnsicht  ansprechen.
In den Meditationshäusern sind die Kurse meist unmittelbar nach Bekanntwerden des Programms ausgebucht. Im traditionellen kirchlichen Raum wird hier eher eine esoterische Praxis vermutet, die vom christlichen Glauben entfremdet. Für die Überwindung der Krise wird sie als bedeutungslos eingeschätzt und im besten Fall noch als Randerscheinung geduldet.
Dabei besteht die Anziehung nicht in der Faszination eines Gurus, vielmehr in der Wirkung, die intensive Stille ausübt. Eine andere Besonderheit ist, dass zur spirituellen Erfahrung der Leib voll mit einbezogen wird. Dass das Religiöse über den Leib geht, ist eine uralte Weisheit, die im christlichen Bereich erst wieder neu entdeckt werden muss. Die Körperhaltung, im sogenannten (Halb)Lotossitz aufrecht auf einem Kissen mit untergeschlagenen Beinen zu sitzen und seinen Atem wahrzunehmen, hat sich als optimale Methode der Entspannung und der ganzheitlichen spirituellen Erfahrung erwiesen. Damit geht die absolute Bewegungslosigkeit einher. Es gibt kein Räuspern, Husten, Blättern, Scharren, Stühlerücken wie in manchen kirchlichen Veranstaltungen, wo Stille eher peinlich ist. Die Stille bekommt eine eigene Qualität. Sie wird nicht als bedrückend, sondern als wohltuend empfunden. Es ist ein  zweckfreies Dasein. Darin gewinnt die religiöse Erfahrung als eigene Dimension wieder ihre Kraft und Bedeutung. Mit anderen Worten: Menschen werden wieder religiös. Dazu ist noch aus physiologischer Sicht zu bemerken: Der Atem ist an der Grenze zwischen dem willkürlichen und dem vegetativen, unwillkürlichen Nervensystem, zwi¬schen dem Bewusstsein und dem Unbewussten angesiedelt. Wir können den Atem anhalten oder absichtlich schneller atmen. Normalerweise geht der Atem ohne unser Zutun, Er wird vom Atemzentrum im Bereich des vegetativen Ner¬vensystems geregelt, welches das Unbewusste vertritt. Über den Atem können wir somit auf den Sitz der Impulse und Emotionen Einfluss nehmen, was mit dem bloßen Willen nicht möglich ist. »Ich bin bei mir und nehme wahr, dass es atmet, wie es atmet«, kann sich der Übende sagen. Durch die bloße Wahrnehmung wird der Atem auf die Dauer langsamer und bringt entsprechende Wirkungen hervor. Der Klage »Uns geht die Luft aus!« wird schon im rein wörtlichen Sinn abgeholfen. Indem man auf seinen Atem achtet, weitet sich dessen Raum, noch mehr der spirituelle Bereich. Weiter wäre darüber nachzudenken, dass in den alten Sprachen dasselbe Wort für Atem und Geist verwendet wird: ruach(hebräisch), pneuma (griechisch), Spiritus (lateinisch).
Als weiteres Element kommt hinzu, sich auf ein Wort oder ein Gebet zu konzentrieren. Im strengen Zen kann es das Wort »Mu« (nichts) sein, im christlichen Bereich das Jesusgebet der Ostkirche: »Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner«; oder nur »Jesus« beim Ausatmen, Christus« beim Einatmen, oder umgekehrt. Tatsache ist, dass die Teilnehmer nach einigen Tagen verändert weggehen, zuversichtlich und mit frischem Lebensmut. Viele haben einen neuen Lebensinhalt entdeckt, besser gesagt, eine neue Einstellung zum Leben. Sie sind bereit, dafür Zeit und Geld zu opfern. Wer diesen Weg über Jahre durchhält, gewinnt andere Interessen, andere Wertvorstellungen und andere Lebensgewohnheiten. Statt Karriere und Gewinn, Ablenkung und Abwechslung ist ihnen der innere Weg als Wachstum der Persönlichkeit wichtig geworden. Viele Äußerlichkeiten fallen ab. Man wird wesentlicher. Es zeigt sich in existenzieller Tiefe, innerer Geschlossenheit des Denkens, Empfindens und Redens. Manche Fragen, die einen bisher bedrängt hatten, lösen sich, darunter so manches Rätsel um die Abwesenheit Gottes im Leid. Das Wahrnehmungsorgan für das Religiöse wird geweckt und mit ihm die Freude. Was bedeutungslos geworden zu sein scheint, wird unter anderem Namen zum Wichtigsten.
Es gibt Teilnehmer, denen weiterhin der christliche Glauben verschlossen bleibt und die den reinen Zen-Weg wählen. Doch sollte nicht übersehen werden, dass vielen der Wert der christlichen Tradition neu aufgeht, das Wort Gottes für sie wieder lebendig wird, Riten und Symbole an Aussagekraft gewinnen. Übende sagen, seit sie meditieren hätten sie auf diesem Weg Krisen überwunden, ihr Leben sei erfüllter geworden. Wer darin das Wirken Gottes abstreiten will, zeigt eher eine sehr beengte Vorstellung davon.
Der Jesuitenpater und Zenmeister Hugo M. Enomya Lasalle nennt zwei Wirkungen auf das Christliche: eine Befestigung des Glaubens und die Öffnung des Zugangs um tiefen Gebet.55 Noch ein wichtiger Punkt darf nicht vergessen werden: Diese Form der Meditation, ob man sie Selbsterfahrung, Arbeit an sich selbst oder aszetische Übung nennt, ist für alle zugänglich, ob gläubig oder ungläubig. Voraussetzung ist nur die Bereitschaft und der feste Wille, sich für das große Geheimnis, das in jedem selbst ist, zu öffnen.

Begegnung mit Gewinn
Auf der Ebene der Meditation kann sich eine bereichernde Begegnung mit der Geistigkeit und Kultur des Ostens er¬eignen. Es geht nicht darum, dass wir fremdes Glaubens¬gut unbedarft übernehmen, sondern dass wir Aspekte un¬serer Existenz, die uns in unserer westlichen Zivilisation verloren gingen, durch Anregungen von außen wieder ent¬decken und einen neuen Zugang zu uns selbst und zu ei¬nem lebendigen Glauben finden. Der Osten hat die Kultur der Stille hervorgebracht, der Westen die Kultur des Wortes. Wir brauchen die Stille (der Meditation), damit das Wort wieder Kraft gewinnt. Buddhas Lehre fordert die Versen¬dung, bei Jesus ist es das Wort, das die Herzen aufschließt. Wir brauchen aber auch die Versenkung, die uns der Osten lehrt, damit das Wort Kraft gewinnt und menschliche Be¬gegnung gelingen kann.
Östliches Denken geht von der Wurzel und Einheit aller Dinge aus. Christlich ist die Einheit in der Verschiedenheit, was der Inhalt unseres Trinitätsdogmas ist. Vater und Sohn bezeichnen die Gegensätze, der Heilige Geist die Einheit, mit der Gott die Wirklichkeit umfängt. Einheit in Verschiedenheit vollzieht sich im Ergriffensein, ob in der Stille der Meditation, in einer liturgischen Handlung oder in einer Rede.

Bei allem Bemühen ist es trotzdem manchmal schwie¬rig, die östliche Kultur zu verstehen. Es sind nicht nur die Begriffe verschieden, die man gegenüberstellt, sondern auch der Rahmen des Denkens und die Weise, die Dinge zu bezeichnen. Deshalb können Übersetzungen nur teilweise den Inhalt des ursprünglich Gemeinten wiedergeben. Dies gilt besonders für den religiösen Bereich, der die Mitte der Existenz berührt. So sind Lehrsprüche von Zen-Meistern für das intellektuelle Begreifen völlig rätselhaft. Nur die Erfahrung kann vermitteln, was in den fremden Worten enthalten ist. Hier dürfen wir uns an Personen wenden, die sich durch Ernsthaftigkeit ihres Denkens und spiritueller Suche als glaubwürdig erwiesen und dazu in der Praxis des Zens eine wesentliche Hilfe erfahren haben.
Es sei  auf den Trappisten, Mystiker und Schriftsteller Thomas Merton verwiesen. Er gehört zu denen, die versuchten, östliche Weisheit mit dem christlichen Denk-und Erfahrungsraum zu verbinden. Er ist als Trappist, Priester und Mystiker zeitlebens ein Suchender und voller Sehnsucht nach dem Absoluten. Ihm genügt der Ordensstand als solcher nicht. Er erkennt in den Zen-Leuten eine echte und radikale Form der Gottsuche unter anderen Begriffen und Vorstellungen, und was noch wichtiger ist: Er sieht darin Aspekte der Wahrheit, die im Christentum ursprünglich vorhanden, aber vernachlässigt und erstarrt sind. Gott spricht zu ihm in der Stimme des Fremden:
»Gott ist zu hören in der Stimme des Fremden. Wii müssen die Wahrheit im Fremden sehen, und die Wahrheit.die wir sehen, muss eine neue lebendige Wahrheit sein, nicht bloß eine Projektion einer toten konventionellen Idee von uns selbst.«
Die Begegnung mit anderen Religionen, auch mit den Muslimen, ist für ihn keine Bedrohung, sondern eine Be¬reicherung. Die im theologischen Bereich übliche Art, an¬dere Religionen in einen vorgefertigten Rahmen zu stellen, sollte seiner Meinung nach aufgegeben werden. Bei alledem wehrt er sich, die Gegensätze zu überspringen und auf billige Harmonisierung zu dringen. Vielmehr geht es ihm darum, sie auszuhalten und gerade in diesem Vorgehen zu einer Einheit zu kommen. Auf seiner Reise nach Bangkok zu dem erwähnten Kongress 1968 macht er Zwischenstation in Ceylon und sucht dort ein berühmtes Buddha-Heiligtum auf. Es wird zu einem Erlebnis, das er als die Erfüllung seiner Sehnsucht bezeichnet:
»Ich habe gesehen, wonach ich dunkel gesucht habe. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt, aber jetzt habe ich unter die Oberfläche geschaut.«58 Seine Stimmung beschreibt er als »Dankbarkeit, Erleichterung, Klarheit, Helligkeit«, ein »Gefühl von Schönheit und spiritueller Stärke«.59 Die Frage bleibt, warum Merton an einem buddhistischen Ort das Unübertroffene findet und nicht an einer christlichen Wall¬fahrtsstätte. Darauf könnte wahrscheinlich nicht einmal er selbst eine Antwort geben. Jedenfalls macht dieses Ereignis nachdenklich und bewahrt vor falscher Selbstsicherheit in christlichen Reihen.
In seiner Rede in Bangkok stellt er die Bedeutung des Mönchtums noch einmal klar heraus. Es ist die Chance, ein neuer Mensch zu werden. Das Wesentliche am klösterlichen Leben ist die »innere Transformation« oder die »Reinheit des Herzens«.60 Beides ist für ihn die Testfrage nach der Berechtigung des Mönchtums, ob in westlich-christlicher oder asiatisch-buddhistischer Art. Am Schluss fasst er noch einmal die wichtigsten Punkte zusammen: Es geht um »Los¬lösung und Reinheit des Herzens« und darum, »zum inne-ren Grund unserer weltlichen Existenz vorzudringen und damit eine Freiheit zu erringen, die niemand angreifen und der keine politische Veränderung etwas anhaben kann.«1'1 Auf dem Hintergrund seines gelebten Mönchtums ist er überzeugt, dass diese Art von Freiheit und Transzendenz erreichbar ist.
Im deutschsprachigen Raum ist der Jesuitenpater Hugo M. Enomiya Lasalle (1898-1990) von entscheidender Bedeutung, wenn von christlichem Zen die Rede ist. Er ging als Missionar nach Japan, begegnete dort dem Zen, der Klöster, Mönche, Landschaften, Denk- und Verhaltensweisen der Menschen damals noch prägte. Er interessierte sich für diese religiöse Welt, weil er das japanische Volk besser verstehen wollte. Als er selbst an den strengen Zen-Kursen teilgenommen hatte, erkannte er darin eine große Hilfe für sein eigenes religiöses Leben, wie für alle, gleich welcher Konfession sie angehören. »Zen ist wie eine Tasse Tee und schmeckt dem Christen genauso wie dem Buddhisten.«" Dieser Satz eines Zen-Meisters ist für ihn ein Leitmotiv, das einen zulässigen Weg für Christen öffnet. Ihm, der den Japanern den Glauben verkünden wollte, geht immer mehr auf, wie wertvoll Zen für die eigene Kirche sein könnte und wie notwendig sie dessen Praxis bräuchte. Ganz deutlich sieht er die spirituelle Schwäche seiner eigenen Glaubens¬gemeinschaft:
»Wenn östliche Meditation solch regen Zuspruch findet, so ist dies nicht in erster Linie einer geschickten Propagan¬da zu verdanken, sondern offenbar einem Vakuum, das sich im religiösen Bewusstsein des westlichen Menschen ausgebreitet hat«.63
Er geht noch einen Schritt weiter. Auf Grund seiner Erfahrung als Erleuchteter sieht er mit Theilhard de Chardin ein neues Bewusstsein der Menschheit heraufkommen, das die Verständigung, die Einheit und den Frieden aller in sich schließt und die rein rationale, technische, verzweckte, sinnentleerte Einstellung der modernen Industriegesellschaft ablöst. Hier mag man den Mystiker für zu optimistisch halten - aber die Sehnsucht nach einer neuen Art des Da¬seins ist in der Nachfrage nach qualifizierten Zen-Kursen erkennbar und im Großen unterschwellig vorhanden.
Damit ist auch seine Kritik am gegenwärtigen spirituel¬len Stand der Kirche verbunden: »Wer an einem Bewusstsein fest hält, das nicht mehr voll gültig ist, verliert unweigerlich, so bitter dies sein mag, Stimme und Einfluss in der Gegen¬wart.«64 »Allerdings wird das Christentum besonders im Sinne der Kirchen immer mehr in die Krise kommen, je mehr sich das neue Bewusstsein durchsetzt.«65
Was Lasalle vor vierzig Jahren klar gesehen hat, wird heute bestätigt. Der Verlust der Kirche an Bedeutung ist offenkundig. Hier trifft sich der verstorbene Jesuit mit dem tschechischen Theologen und Psychotherapeuten TomäsHalfk. Auch er sieht die Ursache der Krise darin, dass die Kirche ihren Hauptakzent auf Lehre und Struktur legt statt auf spirituelle und menschliche Vertiefung.
Als Weg zum neuen Bewusstsein betont Lasalle das Be¬mühen, zu den Quellen zurückzukehren, zu Christus und den Jüngern, die mit ihm lebten. Der Weg dahin ist die eigene religiöse Erfahrung, das tiefe Gebet und die Kontemplation: »Darum muss das Suchen nach den Quellen und neuen Formen immer mit der religiösen Erfahrung verbunden sein.«66 Er hat Authentisches im Buddhismus entdeckt, als gleichberechtigt neben die christliche Praxis gestellt und darin eine große Bereicherung erkannt. Seine eigene Tradition hat er aber nicht infrage gestellt. Bei den Zen-Kursen, in denen er selbst Teilnehmer oder Leiter war, feierte er immer die Eucharistie, dies umso intensiver, je länger er Zen übte.
Ein weiterer Brückenbauer zwischen christlichem Glauben und östlicher Weisheit ist Johannes Kopp (1927-2016), Priester, Pallotiner und Zen-Meister. Er wurde vom Bischof von Essen zur Ausbildung im Zen nach Japan geschickt. Seine Gedanken und seine Sicht zur Zen-Meditation hat er in seinen Büchern »Schneeflocken fallen in die Sonne«6' und »Gebet als Selbstgespräch«68 veröffentlicht. Ihm gehl es dabei um ein Ringen bis in die Wurzeln der Existenz als Mensch und als Glaubender. Damit ist für ihn die Frage verbunden: Wer ist Jesus Christus? Der Name ist für ihn keine Begrenzung, wie manche meinen, sondern Ausdruck dafür, zum immer Größerem offen zu sein und alle Begriffe zu transzendieren. Zugleich ist der Name (Christus) die höchste Einforderung dessen, was im Zen gemeint ist. »Ich habe für mich in immer neuer Entdeckerfreude und im Experiment mit der Wahrheit diesen Namen gefunden und noch mehr lasse ich mich von ihm finden.«69
»Du musst verwirklichen, dass Jesus Christus in dir ist!«70, sagte sein Zen-Lehrer Koun Yamada Roshi zu ihm. Der Pallottiner bekennt, dass er von Christus auch dann redet, wenn er seinen Namen nicht ausspricht, das Gesagte aber aus der Tiefe kommt. Er hört ihn auch, wenn Erfah¬rene und Ergriffene von Wesens-Natur, von Buddha-Natur, von Leere und Fülle reden. Es ist das Nachgehen der Liebe. Damit kommt er zu der wichtigsten Aussage: »Die Befähi¬gung zu größerer Liebe zeigt sich als sicherstes Kriterium für die Richtigkeit des Weges.« »Die Zen-Erfahrung bildet keine Alternative zum Christsein, sondern seine Realisierung.«
Er wendet sich gegen die übliche Art im theologischen Denken, Jesus Christus mit einem Begriffsystem zu ver¬binden. Wenn damit keine eigene Erfahrung verbunden ist, wird der Zugang zur Person des Erlösers verstellt, der das Leben selbst ist und sich in der Dynamik des Geistes entfalten will. Kopp sieht im Zen ein mögliches Auffang¬becken für die vielen, die sich an der Institution Kirche und ihren Begrifflichkeiten reiben oder sich von ihr frustriert und enttäuscht abgewandt haben. Am Schluss seiner Aus-führungen über die Bedeutung des Zen schreibt er: »Im Zen wird grundsätzlich nichts Neues gesagt. Aber Verges¬senes und Abhandengekommenes wird eingeholt.«72 Dem Menschen, der nur nach außen orientiert ist, ist sein wahres Wesen verloren gegangen. Er hat die großen Wertbereiche des Lebens verloren und leidet an einer geistigen Raumnot. Es wird eng für ihn. Wenn er sein Inneres neu entdeckt, wird es weit. Die Zeugnisse der drei Persönlichkeiten stim¬men darin überein: Die Praxis aus einer fremden Religion muss nicht Bedrohung, Verleugnung und Verwässerung der eigenen sein, sondern kann zur wertvollen Ergänzung, das heißt zur Ganzheit, werden.

Zen im Original
Der japanische Zenmeister Suzuki (1870-1966) lebte lange in Amerika und gilt als der bedeutendste Vermittler ei net- fremden fernöstlichen Geisteswelt in den Westen. In seinem Buch »Die große Befreiung«73 gelingt es ihm, Interes sierten etwas von der Wirklichkeit des Zen zu erschließen. Sein Anliegen ist, hervorzuheben, dass es sich beim Zen nicht um einen Glauben, um eine Lehre oder Ideologie, auch nicht um eine Philosophie handelt, vielmehr um eine Einstellung, die nur durch die Praxis gewonnen wird.
»Werde ich also gefragt, was Zen lehrt, so muss ich am Worten, dass Zen nichts lehrt. Was immer für Lehren es im Zen gibt, sie kommen aus dem Inneren jedes einzelnen Wir sind selbst unsere Lehrer: Zen weist uns den Weg.«74
Wer Zen übt, muss nicht an Buddha glauben, auch nicht an einen Meister, noch fremdes Gedankengut übernehmen: »Zen hegt ein unbedingtes Zutrauen zum innersten Wesen des Menschen. Alle Autorität im Zen kommt von innen.«1'
Die ganze Weisheit besteht darin, sein eigenes Wesen zu entdecken. Wem das gelungen ist, kann auch den anderen in seinem eigenen Wesen wahrnehmen. Damit kommt Zen dem modernen Menschen entgegen, der ein gesteigertes Be¬dürfnis nach Selbstbestimmung und Eigenständigkeit hat. Weil Traditionen, an denen er sich bisher orientierte, zer¬brochen sind und sich an deren Stelle ein riesiger Markt der Weltanschauungen und spirituellen Angebote aufgetan hat, gibt ihm nur die Entscheidung, bei sich selbst einzukehren und sich selbst zu erforschen, Sicherheit. Die Frage: »Wer bin ich?« ist der innerste Impuls, der viele antreibt, sich der beschwerlichen Disziplin eines Zen-Kurses zu unterwerfen.
Ferner betont Suzuki Natürlichkeit, Freisein von aller Künstlichkeit, Vereinfachung des Lebens, Originalität als Kennzeichen einer Einstellung, die Zen ausmacht. Hier trifft er auf ein echtes Bedürfnis in einer Welt, die in allen Bereichen immer komplizierter wird:
»Wir sollen mit der innersten Kraft unseres Wesens in Fühlung kommen und zwar auf dem kürzesten Weg ohne Rückgriff auf etwas Äußeres oder Zusätzliches. Die Lebens- lülle, so wie sie wirklich lebt, ist das, was Zen zu erfassen sucht. In Wirklichkeit ist es der Geist aller Religion und Philosophie. Wird Zen im Tiefsten verstanden, so erreicht der Geist den vollkommenen Frieden und ein Mensch lebt, wie er leben sollte.«76
»Innerste Kraft unseres Wesens«, »Lebensfülle«, »voll¬kommener Friede«, »leben, wie man leben sollte« sind Ziele, die harte Arbeit an sich selbst verlangen. Deshalb gehört nach Suzuki die Beherrschung der Begierden unbedingt da-
140
14t

zu, ebenso dass man durchgehend gesammelt ist und keinen Augenblick müßig verschwendet. Es fällt nicht schwer, hier Parallelen zu Inhalten zu sehen, um derentwillen einmal klösterliches Leben im christlichen Raum entstanden ist.
Orte der Kraft - erfüllte Räume
Sehr aufschlussreich ist, wie Vertreter der Zen-Praxis ihre Position in der Welt von heute verstehen. Das nach Gral Dürckheim benannte Bildungszentrum Centre Durckbeim in Mirmande (Rohnetal/Frankreich) beschreibt sein Ange¬bot auf folgende Weise:
»Unsere Arbeit im Geist des Zen ist ein Weg der Be freiung. Wir wollen allen, die im Tiefsten ihres Selbst die Forderung nach Transparenz für das Sein spüren, die Bedin¬gungen dafür schaffen. Sie finden in Mirmande eine Arbeit der Wandlung und Reifung mit dem Ziel, ein Mensch zu werden, der wahrer, authentischer und freier ist.«77
Es geht um mehr Freiheit und Authentizität und d ie für Menschen, die sich nach Transzendenz sehnen. Was verbietet eigentlich, dies eine Suche nach Gott zu nennen Nach Jaques Castermane, dem Leiter des Zentrums, ist die Freiheit, die er vertritt, keine politische, sondern eine innere, Wer sie erlangt, ist nicht mehr Gefangener seiner Emoi io nen und seiner Angst und immer weniger von den äußeren Bedingungen abhängig. Der Zen-Meister befasst sich mit der Frage, ob die Arbeit am eigenen Selbst bei den großen Problemen der Gegenwart berechtigt sei, ob nicht hier ein verantwortungsloser Egozentrismus genährt werde. Zum Vergleich nimmt er das Ein-und Ausatmen, bei dem eines das andere braucht. Er erkennt zwei Gefahren, in die man geraten kann. Einmal, dass man sich in sich selbst ver¬schließt; die andere ist, dass man sich an die äußeren Welt verliert: »Das Wohl des Einzelnen wie das der Gesellschaft hängt vom Gleichgewicht der beiden Einstellungen ab.«78
Bemerkenswert ist sein Gespräch mit dem Abt eines Zen-Klosters in Japan, Morinaga Roshi, über das Verhältnis von tätiger Nächstenliebe und Spiritualität. Der japanische Zen-Mönch meint dazu: »Ohne Zweifel müsse man den Armen helfen, dafür Schulen, Krankenhäuser und andere Einrichtungen bauen. Das hätten die Vertreter der Kirche, Wohltäter und Förderer in der Vergangenheit auch getan. Auf diese Weise sei die Kirche eine Art Supermarkt gewor¬den, in dem es alles zu kaufen gibt von der Zahnpasta bis zum Schlafzimmer. Diese Aufgaben habe heute der säkulare Staat übernommen. Die Kirche müsse deshalb nicht mehr der Supermarkt sein, der alles anbietet. Vielmehr könne sie sich mehr mit dem befassen, was ihre eigentliche Beru- (ung ist nämlich die Religion!« Er sieht die Rolle eines Zen- Klosters als die eines Fachgeschäfts, wo nur die Qualität des Angebots zählt.
Es verdient Aufmerksamkeit, was ein Meister des spi¬rituellen Lebens aus einem ganz anderen Kulturkreis über Kirche, monastisches Leben und soziale Verantwortung sagt. Die soziale Fürsorge ist nicht die erste Aufgabe der Kir- i Ire und der Klöster, ebenso wenig die schulische Bildung.
I )ies kann auch eine gute Wirtschafts- und Sozialpolitik leisten. Inzwischen sind ja auch die ehemals von Orden geführten Schulen und Krankenhäuser in die Hände der Öffentlichkeit übergegangen. Die beiden Aussagen »Die eigentliche Berufung der Kirche ist die Religion« und »die Qualität des Angebots zählt«79 gewinnen höchste Aktuali tat, wenn über den Mangel an Nachwuchs im Priester- und Ordensstand nachgedacht wird. Die Lösung kann nicht in der Übernahme von neuen sozialen Aufgaben und besse¬rer Organisation gefunden werden. Gefordert ist vielmehr, den Blick auf die innere Motivation zu lenken und auf die Arbeit am Menschen als solchem. Das erfordert als Erstes die konsequente Arbeit an sich selbst.
Dies bedeutet im Hinblick auf den Mangel an Priester und Ordensberufungen, den Hauptakzent auf eine gestei gerte spirituelle Qualifikation zu legen. Sie müsste der eines Zen-Meisters vergleichbar sein und Priorität vor allen äu¬ßeren Maßnahmen haben. Die immer mehr schwindende Anzahl der Kirchenbesucher und die steigende Nachfrage in den Meditationshäusern geben Anlass, sich an deren An geböte und Anforderungen messen zu lassen. Sie sind nichts anderes als Hilfe auf der Suche nach dem Transzendenten und nach innerem Fortschritt. Im Grunde zeigt der japani¬sche Zen-Mönch auf, wie der priesterliche Dienst und der Stand des gottgeweihten Lebens seine Bedeutung in einet säkularisierten Welt wieder gewinnen könnte.
In diesem Zusammenhang ist es angebracht, noch ein Wort zu den spirituellen Orten der christlichen Tradition zu sagen. Dazu gehören die Gebäude der Klöster aus alten Zei ten: die Kirche, der Chorraum der Mönche und der Kreuzgang
Man wundert sich über die Höhe und Weite der Räume. Sie haben eine andere Qualität als jedes säkulare Gebäude. Der mittelalterliche Mensch hat sie geschaffen, weil sie sei¬ner inneren Empfindung entsprachen. Hier hat seine Seele geatmet im Gebet und im Lob Gottes. Er fühlte sich hier zuhause, weil die äußeren Räume seine inneren öffneten und darstellten. Nur so ist die gewaltige Anziehung zu erklären, die von ihnen ausging. Als Bernhard von Clairvaux um die Mitte des zwölften Jahrhunderts einen Neuaufbruch des Mönchtums schuf, war nach fünfzig Jahren nicht nur Frankreich von neugegründeten Klöstern übersät.
In den Kirchen, in denen seit Jahrhunderten gebetet und die Liturgie gefeiert wird, kann man auch heute noch etwas von dieser Strahlkraft spüren, allerdings nur, wenn die Wahrnehmung dafür geweckt ist. Es ist eine Atmosphäre, die man als ergreifend, weit, frei, erfüllend und beglückend bezeichnen kann. Man darf in der Touristenattraktion, zu der sie heute geworden sind, durchaus den Keim einer un¬gestillten Sehnsucht vermuten. Vor allen sollte eines her¬vorgehoben werden: Die spirituelle Kraft, welche religiöse Räume vermitteln, beinhaltet eine Lebensqualität, die durch nichts übertroffen werden kann. Darin lag auch das Motiv, warum sich einmal Menschen für diese Form des Lebens entschieden haben. Die Krise des Ordensstandes von heute darf darin gesehen werden, dass dem modernen Menschen die seelischen Innenräume verschlossen sind. Es sei noch einmal an die geistige Raumnot und Enge erinnert, von der Kopp schreibt.
Die Raumnot und Enge sind bedingt durch die einseitige, rationale Prägung der wissenschaftlichen Bildung und die damit einhergehende Ausrichtung auf Äußeres, auf Leistung und Ablenkung, Gewinn und Genuss. Es ist die Ebene, aut der sich die in letzter Zeit zur Mode gewordenen Umfragen nach Glück und Zufriedenheit bewegen.
Eine theologische Ausbildung, die nur auf Lehre und Struktur abhebt, steht dieser Erscheinung hilflos gegenüber. Hier könnte Zen und alles, was über seine Praktizierung gesagt wurde, eine zentrale Bedeutung gewinnen. Durch ihn wird es möglich, die verschlossenen Innenräume zu öffnen. Noch einmal sei auf den Andrang auf die Zen-Kurse hingewiesen. Die Teilnehmer lassen sie sich Zeit und Geld kosten, weil sie darin äußerst Wertvolles entdeckt haben. Für die Orden heißt das: Sie könnten dann überleben, sogar neu aufblühen, wenn sie als Erstes auf die Sinnsuche und Vertie fung des modernen Menschen eingehen, die erfolgreichen Wege aufgreifen und das Religiöse als solches erschließen. Unter dieser Voraussetzung könnten die Räume und die Strukturen eines Klosters mit neuem Leben gefüllt und eine Lebensqualität angeboten werden, für die sich ein Verzicht auf vieles andere lohnt.
Ungewöhnliche Verheißungen
Wo es einem die Sprache verschlägt
Angelpunkt und Ziel der von Zen angestrebten Lebenseinstellung ist die Erleuchtung. Im Japanischen werden dafür die Begriffe satori und kensho verwendet. C. G. Jung empfiehlt, bevor man mit dem westlichen Denken an Zen-Geschichten herantritt, »sich vom fremdartigen Dunkel der Zen-Anekdote tief beeindrucken zu lassen und sich immer wieder vor Augen zu halten, dass das satori, wie es auch die Zen-Meister wollen, ein mysterium ineffabile ist«, das heißt ein Geheimnis, das nicht ausgesprochen, das ergreift, aber nicht begriffen werden kann. »Man hat das Gefühl, hier ein wirkliches und kein eingebildetes oder vorgegebenes Geheimnis zu berühren, das heißt, es handelt sich nicht um mystifizierende Geheimniskrämerei, sondern um ein Erlebnis, das allen die Sprache verschlägt.« Satori bedeutet »Verstehen«, kensho kann mit »Wesensschau« übersetzt wer¬den. Es geht aber nicht um ein Schauen im herkömmlichen Sinn, als ob wir etwas sehen würden. Es ist vielmehr so, dass mit uns etwas geschieht. Wir werden wie von einer höheren Macht ergriffen, die zugleich das eigene Wesen, unsere wahre Natur ist. Es ist eine Erfahrung von unschätzbarer Kostbarkeit".

Aus Guido Kreppold Die Verwaltung des Untergangs - Keine Hoffnung für Klöster und Kirche? Münsterschwarzach 2017  S.129 ff