Wer stützt die einfallende Kirche?
Franziskus von Assisi -
Als der heilige Franziskus von Papst Innozenz III. die Anerkennung seines Ordens erbat, hatte dieser in der vorausgehenden Nacht einen Traum: die große Lateranbasilika, die Hofkirche des Papstes droht einzustürzen. Da kommt ein Mann und stützt mit seinen bloßen Schultern die wankenden Mauern, er ganz allein. Als Franziskus vor dem Papst erscheint, erkennt ihn dieser als den Mann, der die Kirche vor dem Einsturz bewahrt hatte. Die Szene ist in der großen Franziskuskirche in Assisi dargestellt.
Der Mann der Ausstrahlung
Der unbekannte Mann, dervor dem Papst erscheint, ist der Kleidung nach kein Mönch, kein Kleriker, kein Edler, kein Bürger einer Stadt, kein Gelehrter, eher einer aus dem Armenviertel oder vom Land weit draußen, einer von denen, die nichts sind, die man nicht beachten muss, die nicht zählen. Er ist ein Niemand, der Glück hatte, überhaupt eine Audienz zu bekommen.
Was aber beeindruckt, ist die Art seines Redens und Auftretens, die Atmosphäre, die er verbreitet, die Aufmerksamkeit, die er erregt. Da ist etwas Friedvolles und Gütiges und zugleich Aufrüttelndes. Er bringt sein Anliegen mit einer Sicherheit und Überzeugung vor, die aufhorchen lässt. Es scheint eine innere Glut in ihm zu sein, die eine solche Ausstrahlung hervorbringt.
Der Papst ist anscheinend von diesem Auftreten berührt. Es dürften ihm Zweifel im Hinblick auf seine Machtpolitik gekommen sein. Stattdessen wird ihm bewusst, dass dieser Mann die Kirche retten kann.
Der Papst, der Herr der damaligen Welt, hat noch eine andere Seite, die historisch bezeugt ist. Er schrieb eine Abhandlung „über die Verachtung der Welt". Genau diese wird von Franziskus angesprochen, so durchdringend, dass für den Papst etwas von einer Zukunft der Kirche aufleuchtet: Dieser Mann ist es, der die Kirche vor dem Einsturz bewahren kann. Sein erstes Auftreten beschreibt Thomas von Celano so: „Er sprach in einfältiger Rede, aber sein Wort aus der Fülle des Herzens ergriff die Zuhörer. Es war wie ein brennendes Feuer, das in die Tiefe der Herzen drang und alle mit innerer Bewunderung erfüllte"1(
Es war ein Funke, der übersprang. Das Entscheidende war, dass es den Sitz der Gefühle und des Denkens erreichte und deren Ausrichtung umkehrte. Was die Zuhörer bisher für erstrebenswert gehalten hatten, wurde bedeutungslos. Es taten sich völlig neue Perspektiven auf. Es war eine innere Glut in ihm, die eine solche Ausstrahlung hervorbrachte.
Franziskus löste so, wie er war, eine gewaltige Wirkung aus. Seine Überzeugungskraft stütze sich nicht auf Vollmachten, Rang, Namen, Titel oder auf gelehrtes Wissen. Man könnte sich vorstellen: Das wäre heute. Die Leute würden aufhorchen, nach dem Gottesdienst zusammenstehen und weiter diskutieren, auf der Straße stehen bleiben, es gäbe neue Schlagzeilen, die Talkshows bekämen neue Themen.
Das Geheimnis des brennenden Feuers
Die Überzeugungskraft des Heiligen ist nicht zu verstehen ohne die Geschichte seiner Innenerfahrungen. In den Lebensbeschreibungen ist von der Liebe zur Braut, von der kostbaren Perle, vom gefundenen Schatz, von den Herrlichkeiten des einfachen Lebens die Rede. Dies ist mehr als ein Ideal, dem er nachjagd. Es stehen Erlebnisse dahinter, welche diese Bezeichnungen verdienen. Eine Episode zu Anfang seines neuen Weges bringt ihn auf die Spur. Auf dem nächtlichen Heimweg mit seinen Freunden bleibt er plötzlich stehen und kann nicht mehr weitergehen. Es heißt: Gott hatte ihn berührt. Er erschien seinen Freunden wie in einen anderen Menschen verwandelt. Das Erlebnis ist so überwältigend, dass alles, was bisher für ihn wichtig war, seine Bedeutung verliert. Für ihn verschieben sich die Perspektiven: Besitz, Ansehen, Karriere, Macht werden zu Null, auch der Name seines Vaters, die Wertschätzung seiner Freunde und der Bewohner der Stadt. Je mehr er sich davon löst, umso mehr taucht er in das Glück der Nähe Gottes ein. Es ist das Erleben der „Süße", des „inneren Erglühens", des Jubels, welches alle anderen Motive und Begehrlichkeiten verblassen lässt, eine Motivation, die weiter lockt und weitertreibt. Was nach außen als der größte Verlust erscheint, wird für Franziskus zur höchsten Lebenssteigerung, zum lohnendsten Ziel, das ein Mensch erreichen kann, zur „Fülle des Lebens".
Kann die Glut entfacht werden?
Meist wird die radikale Armut zitiert, für die sich die Kirche entscheiden sollte.
Aber ohne den inneren, erfüllenden Reichtum wird die äußere, sogar freiwillig gelobte Armut zur Last, der man entfliehen will, oder sogar zur menschlichen Verkümmerung, in keinem Fall zu einer überzeugenden Ausstrahlung.
Eine äußere Nachahmung in dem Sinne, indem wir von heute auf morgen das zu tun uns bemühen, was der große Heilige getan hat, wird es nicht bringen. Denn dann würden wir gerade das verfehlen, was das große Vorbild ausgezeichnet hat. Er hat als erstes sein ganz Eigenes entdeckt gegen alles, was von außen kommt, gegen alle Erwartungen seiner Familie, seiner Freunde, seiner Heimat. Seine Originalität und seine Spontaneität lassen sich nicht absichtlich herbeiholen, wohl aber kann jeder eine innere Dynamik in sich selbst entdecken. Den wenigsten ist bekannt, dass jeder Mensch eine Antenne zu einer inneren Quelle hat, die einen über das herkömmliche, banale und oberflächliche Denken hinaushebt. Dafür spricht der überwältigende Andrang zur absoluten Stille in den Meditationshäusern und zu anderen nichtkirchlichen spirituellen Angeboten. Davon ist die Übung der absoluten Stille, wie es im Zen geschieht, ernst zu nehmen, sogar als die große Chance. Es bedeutet nichts anderes als nicht reden, sich nicht bewegen, nur seinen Atem spüren. Gerade das Anhalten aller Aktivitäten des Ich öffnet eine neue Dimension des Daseins. Wegen der Absichtslosigkeit wachsen
Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Überzeugungskraft, die Fähigkeit, auf andere zuzugehen und auf die geistige Entwicklung der Zeit wandelnden Einfluss zu nehmen. Das heißt aber auch dass das Ringen um Strukturen, um äußere Maßnahmen und Veränderungen nur relative Bedeutung haben. Nicht die äußeren Machtmittel und die Position, die man sich durch gesellschaftlichen Aufstieg erwirbt, auch nicht die intellektuelle Überlegenheit und die scharfe Logik sind die entscheidenden Faktoren einer geistigen Umkehrbewegung, sondern Menschen, die wie Franziskus ihren Weg zur vollen Wahrheit gehen und selbst zur Botschaft werden.
Träume-die unbekannten Ressourcen
Der heilige Franziskus hat viele Bewunderer aber wenig Nachfolger. Selbst gut gemeinte Versuche, es so zu machen wie er, gewinnen nicht die überzeugende Kraft oder scheitern über kurz oder lang. Man kann den großen Mann nicht imitieren wohl aber sich von ihm inspirieren lassen. Es bleibt nichts anderes, als dort anzufangen, wo der Heilige angefangen hat, nämlich bei sich selbst. Es ist wichtig zu betonen, dass das neue Leben des Heiligen mit Träumen beginnt, nicht mit heroischen Taten und aszetischen Übungen. Hier trifft er sich mit der modernen Psychoanalyse, welche mit Träumen arbeitet, um einen Menschen von Grund auf zu wandeln. Träume steigen aus dem Teil unserer Seele auf, über den wir nicht verfügen, der aber unsere Stimmungen, unsere Interessen, unsere Freude, Angst, unsere Sympathien und Abneigungen, unsere Entscheidungen wesentlich bestimmt.
Die Spontaneität des Guten
Das heißt wir könnten einander annehmen, verstehen, nahe sein, helfen ohne einander festzuhalten und den andern die eigene Meinung und den eigenen Willen aufzuzwingen., wenn wir uns mit aller Ehrlichkeit mit unseren Träumen, das heißt mit uns selbst befassen. Wir könnten die Spontaneität gewinnen, im Augenblick das Richtige zu sagen und zu tun. Wir hätten dann die Kraft, die Herzen der Menschen anzusprechen und einen ähnlichen Prozess auszulösen. Der tiefste Grund dafür ist die Gnade Gottes, die sich in einer eigentätigee Instanz verwirklicht, welche der Tiefenpsychologe C.G. Jung im Unterschied zum Ich das Selbst, Archetyp der Ganzheit und des Gottesbildes, oder Gefäß der Gnade Gottes nennt, verwirklicht. Ein anderer Name ist . Es ist das Gefäß der Gnade Gottes. Das bedeutet, dass hier die Stelle der Seele ist, wo Gott spricht, wo wir ergriffen sind und gewandelt werden.
So war es beim heiligen Franziskus. Er hatte einen Traum vom Schloss mit den herrlichsten Rüstungen und Waffen, Gegenstände, die damnals einen jungen Mann begeisterten. Es war aber eine Botschaft des Innern, der obersten Instanz, die sein Geschick leitete.. Auch die heilige Teresa von Avila spricht vom Schloss, um das Wohnen Gottes in der Seele zu beschreiben. Franziskus wurde an die Stelle seines Wesens angeschlossen, die mit unbegrenzter Energie aufgeladen ist. Dies zog seine volle Aufmerksamkeit und Hinwendung zu sich und erfüllte ihn mit überwallendem Glück. An anderer Stelle heißt es: Die Süße zog ihn weiter und weiter.
Die Vision von Kirche
Franziskus war ein Mann, wie ihn unsere Zeit brauchen könnte. Es geht um die geistige Macht, welche stärker ist als die Strömung der Zeit mit ihren hohen Ansprüchen nach unbeschränkter Freiheit und Lebenssteigerungen und mit ihrem Suchen nach Lösungen.
Die Anziehung neuer spiritueller Bewegungen und des Psychomarktes liegt darin, dass sie den Menschen Antworten zu geben versuchen auf bedrängende Fragen, die so lauten:
Wie finde ich einen Ausweg aus meiner verworrenen Lebenssituation, aus den misslungenen Beziehungen, aus Einsamkeit und verödetem Dasein, aus der Angst vor der Zukunft? Der sogenannte moderne Mensch hat sich von den Bindungen an Traditionen und Autoritäten gelöst. Ihn beeindruckt nicht, was Vertreter der Institution sagen, aber er ist durchaus offen für die Begegnung von Mensch zu Mensch. Es kann nur ein Wort sein, das ihn ergreift, wenn es aus der Echtheit und Tiefe des Herzens kommt.
Die Kirche könnte der Ort sein, wo solches geschieht. Das ist die große Verheißung Jesu und die große Vision.
Dazu tragen alle bei, die eine Atmosphäre schaffen, wo man aufatmen und sich öffnen kann, wo Menschen mit ihrer Geschichte ernst genommen und verstanden werden, wo man einem keine neuen Anstrengungen oder kluge Lehren vorhält.. Titel und Rang als solche greifen nicht, wenn es um die innersten Belange geht, um Sinn und Ausrichtung des Lebens. Was auch bei Nichtkirchlichen ankommt, ist die Authentizität der Person, die getragen ist von einer unmittelbaren Gotteserfahrung, von einer inneren Glut, wie sie der heilige Franziskus hatte.
Dessen Originalität und Ausstrahlung lassen sich nicht herbeireden, wohl aber kann sich jeder der Dynamik einer Entwicklung öffnen. Man wird dem Heiligen aus Assisi nur dann ähnlich werden, wenn man seinen ganz eigenen Weg so geht, wie dieser den seinen gegangen ist.
Keine neuen Lasten sondern die Freude des Sonnengesangs
Die Aufgabe besteht nicht in neuen Lasten, sondern jenen Kern in sich zu entdecken, der einen über sich selbst hinauswachsen lässt und die innerste Sehnsucht erfüllt. Wenn wir schon das Bild Gottes in uns tragen, dann ist jeder ganz er/sie selbst, wenn er/sie bei Gott angekommen ist. Anders gesagt Gott ist dort, wo ich ganz ich selbst bin. Das ist die gesuchte Authentizität, die überzeugt und die Kirche stützt. In einem bischöflichen Schreiben werden die Getauften zum Streben nach Heiligkeit aufgefordert, ein Wort, das im theologischen und kirchlichen Alltag ziemlich ausgestorben ist, worüber kaum noch gesprochen wird. Denn damit ist die Vorstellung verbunden, man müsse sich die schweren Lasten der Heiligen aufladen, noch gewissenhafter, noch radikalerr Ideale verfolgen befolgen oder sogar Heroisches leisten wie die Heilige Teresa von Kalkutta. Dies fühlt sich nicht als anziehendes Motiv an, eher als zusätzliche Bürde. Man denkt eher: Wenn ich mit meinem Leben zurechtkomme, muss das doch genügen! Es ist kaum anzunehmen, dass eine von oben kommende Ermahnung, welche die Taufe als Bewegrund anführt, Menschen zum Ändern ihres Lebensstiles veranlasst. Allem Anschein nach werden im bischöflichen Schreiben die Akzente der Motivation falsch gesetzt. Die Tatsache, dass man als Kind die Taufe empfangen hat, wird noch nicht zu einem Leben anregen, dass dem seinen gleicht. Der Verzicht als solcher bringt es noch nicht. Warum sollte die vollkommene Armut des hl. Franziskus ein erstrebenswertes Ideal sein? Anders ist es, wenn man sich den Sonnengesang als das Ergebnis seines einmaligen Weges vor Augen hält. Daraus könnte ein Motiv werden, das so lautet: „Ich möchte den Sonnengesang des heiligen Franziskus mit der Freude und Überzeugung singen können, mit der ihn der Heilige verfasst hat. Ich möchte so wie er Gott, den Menschen und den Geschöpfen nahe sein! Ich möchte frei sein von der Angst vor den Menschen und sogar vor dem Tod, vor allem möchte ich, dass die Liebe gelingt, ganzgleich welche Wege sie nimmt!"Allein schon die Einsicht lohnt sich, dass es nichts Größeres, Kostbareres und Schöneres gibt, als diese Atmosphäre des Erlebens. Die Auswirkung auf die Umgebung und der Einsatz für Leidende und Arme ergeben sich von selbst.Das Sonnenlied ist nicht die Erfindung eines exzentrischen Dichters, auch nicht das Ergebnis von guten Vorsätzen oder der Befolgung der Gelübde. Es ist eine freie Schöpfung aus dem Seelengrund eines Mannes, der von Gott durchdrungen ist, das Resümee seines Lebens. Ein innerer Weg Dahinter steht ein innerer Weg, ein Werdeprozess, der auch anderen möglich ist. Der Eifer, den Heiligen mit bestem Willen nachzuahmen und seine Regel zu befolgen, führt noch nicht zu dem Ersehnten. Er kann auch zu einer Sackgasse werden. Es geht nicht, ohne dass man den ganz eigenen Weg sucht oder eher sich suchen lässt. Ein Berufungserlebnis, das einem den Weg weist, kann man nicht machen, aber sich dafür bereiten. Es beginnt damit, dass man sein Innerstes in der Tiefe zu erspüren versucht, indem man die Fragen zulässt: Was berührt mich, was bewegt mich, was ergreift mich am Tiefsten? Wer deshalb über die Rettung der Kirche nachdenkt, kommt nur dann weiter, wenn er bei sich selbst beginnt.
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