Das  Christentum am Ende?

In den alten, vom Christentum geprägten Ländern scheint die Kraft der ursprünglichen Religion zu erlöschen. Die Kirchenaustritte haben im letzten Jahrzehnt so zugenommen, dass jedes Jahr Katholiken in der Zahl ungefähr einer Großstadt von 300000 die Kirche verlassen, während ein Dorf von etwa 6000 Erwachsenen zur Kirche zurückfindet. Es bräuchte eigentlich gar nicht gesagt zu werden:
Die Menschen von heute stehen der Kirche und dem Christentum äußerst kritisch gegenüber. Die Hauptvorwürfe sind: die feudale Struktur, gemeint ist der hierarchische Aufbau, das Festhalten an Dogmen und an einer weltfremden und lebensverneinenden Moral. Um den Vorwurf auf den Punkt zu bringen: In dieser Kirche darf ich weder selbständig denken, noch darf ich meine Gefühle zulassen. Man könnte von Unworten des Christentums sprechen: Dogma, Opfer, Kreuz. In diesen drei Begriffen drücke sich die ganze Lebensfeindlichkeit der christlichen Lehre, von wem auch immer sie stamme, aus. Es ist das Verbot des Denkens und der Lebensfreude.
Erscheint die Kirche so negativ, weil das Interesse am Religiösen erloschen ist oder weil die Kraft des Christentums erlahmt ist? Es hat den Anschein, als ob das Christentum den Menschen unserer Zeit nicht mehr das geben könne, was sie in ihrer Lebensangst, ihrer Überforderung, Einsamkeit und Sinnleere bräuchten.
Tatsache ist, dass man in Bildungshäusern immer mehr religiöse Angebote außerhalb der christlichen Tradition antrifft, dass die Zahl der Esoterik-Interessierten mit steigender Bildung wächst, und dass Ungezählte nach Indien, Thailand und Japan fahren, um dort in buddhistischen Klöstern Religion zu erleben. Tatsache ist auch, dass in unserem Land die Angebote der Zen-Meditation und vieler sogenannten neureligiöser Bewegungen großen Zulauf haben gerade von solchen Menschen, die dem Christentum ablehnend gegenüberstehen.
Wir fragen uns deshalb: Welche Elemente des Christentums sind verlorengegangen, wenn der Name der Kirche, sogar der von Jesus eher Unverständnis, Achselzucken auslöst als Interesse und Zustimmung. Ich möchte die Problematik, die heute zwischen Kirche und moderner Gesellschaft besteht, in drei Punkten zusammenfassen und dann genauer hinschauen, inwieweit im ursprünglichen Christentum bzw. in einem tiefer verstandenen Christentum die Lösungen enthalten sind.
1. Die sogenannte Säkularisierung.
Die Religion scheint bedeutungslos geworden zu sein. „In die Kirche gehen wir vielleicht einmal im Jahr. Ohne Religion, vor allem ohne Kirche lebt es sich besser, freier, unbeschwerter". Es sind Stimmen, in denen sich eine säkularisierte Einstellung äußert. Die meisten stehen dem Christentum gleichgültig, skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber. „Euere Fragen interessieren mich nicht, euere Antworten weiß ich schon", sagte eine junge Frau einem Theologen bei einem Vortrag. Gott ist für die meisten einfach zu weit weg, sogar unerreichbar, sodass er eine wesentliche Rolle im Leben des einzelnen spielen könnte. Nach einer Umfrage vom Allensbacher Institut hat die Religion auf der Rangliste der Werte, die Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben wollen, den allerletzten Platz.
2.Die zunehmende Individualisierung
Damit ist die Entwicklung zum Einzelwesen gemeint. Das bedeutet, dass soziale Größen und Institutionen an Bedeutung verlieren. Die Bindungskraft von Ehe, Familie, politischen Parteien und Kirche ist gewaltig geschwunden.(1)
3. Insofern Institutionen die Tradition vertreten ist damit der immerwährende Aufstand gegen die Tradition verbunden Davon ist das geistige Klima der letzten dreißig Jahre im Besonderen geprägt. Dies führte zu einer Spaltung zwischen denen, die noch zur Tradition halten, und denen, die sich von der Tradition gelöst haben.

Ist die Säkularisierung unüberwindbar?
Gerade weil die Anziehung des Zen-Buddhismus so groß ist, sollte man genauer hinschauen, was an ihm so attraktiv ist, und die Ratschläge seiner Vertreter beachten. Die Kritik Außenstehender sollte man ernst nehmen.
Der Zenmeister Yamada Koun sagt, dass Buddhismus und Christentum die Kraft verloren hätten, die allein Menschen erlösen kann. Unter Erlösung versteht er die Erkenntnis, dass er selbst und die ihn umgebende Welt völlig leer ist. Es geht um den Zustand des Satori, in dem man jenseits des Leidens ist, jenseits von Leben und Tod, im absoluten Frieden, oder andersgesagt im Frieden des Absoluten. Er gibt dem Buddhismus und dem Christentum den guten Rat, sie sollten das Theoretisieren lassen und wieder zu einer lebendigen Erfahrung finden. Yamada Koun ist davon überzeugt, dass es auch im Christentum die Erleuchtung als Erfahrung gegeben habe, was aber dann zugunsten der philosophischen gedanklichen Spekulation in Vergessenheit geriet. Erleuchtung ist ein Schlüsselwort für den Buddhismus. Im kirchlichen Raum ist dieses Wort eher unbekannt. Von den Theologen wird dem Begriff so gut wie keine Beachtung geschenkt. Die historisch-kritische Exegese versucht, alle Stellen der Heiligen Schrift, die mit außerordentlichen Erscheinungen zu tun haben, möglichst auf rational Verstehbares zu reduzieren. Es ist höchst wahrscheinlich, dass östliche Wege der Religiosität für Suchende deshalb so attraktiv sind, weil sie nicht Belehrung, sondern Erfahrung mit dem Ziel der Erleuchtung anbieten Deshalb ist es wichtig, die Spur der sogenannten Erleuchtung auch in der christlichen Tradition weiter zu verfolgen.

Was ist Erleuchtung?
Es gibt durchaus auch Erleuchtungserlebnisse im christlichen Raum. Eines davon ist das sogenannte Me´morial des Philosophen Blaise Pascal(+1663)
„Im Jahre des Herrn 1654, Montag, den 23. November, von ungefähr halb elf abends bis ungefähr halb eins in der Nacht: Feuer. Gott Abrahams, Gott Israels, Gott Jakobs, nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Freude, Friede. Gott Jesu Christi. Er wird nur gefunden auf den Wegen, die im Evangelium gelehrt werden. Tränen der Freude.
Ich hatte mich von ihm getrennt. Ich bin vor ihm geflohen, ich habe ihn verleugnet, gekreuzigt. Dass ich nie mehr von ihm getrennt werde. Hingabe an Jesus Christus."
Das Dokument seines Erlebnisses war auf Pergament geschrieben und wurde nach seinem Tod in seine Kleider eingenäht gefunden. Es muss ihm anscheinend so viel bedeutet haben, dass er jeden Tag seines Lebens an dieses große Ereignis erinnert werden wollte. Im Mittelpunkt steht nicht der Gott der Philosophen, sondern der Gott Israels, der Gott Jesu Christi, der nur auf den Wegen des Evangeliums gefunden werden kann. Damit erfüllt Pascal die Forderung Yamada Kouns, das Theoretisieren aufzugeben und auf die Erfahrung zu vertrauen. Der japanische Mystiker würde sein Erlebnis als Satori, als Erleuchtung bezeichnen.
Im Zentrum steht ein Erleben, das der Philosoph mit „Feuer" ausdrückt. Für die meisten ist dies zunächst völlig unverständlich. Ich werde erinnert an den Bericht einer Frau über ein Jugenderlebnis. Es war nach dem Abitur. Als sie allein spazieren ging, hatte sie plötzlich die Empfindung zu brennen. Dieses Erlebnis war so überwältigend, dass sie beim Erzählen 20 Jahre später noch in Tränen ausbrach. Sie konnte damit nichts anfangen, konnte es nicht einordnen, aber auch nicht vergessen. Sie wusste nicht, ob es Zeichen einer angehenden Psychose war oder ob es mit dem Religiösen zu tun hatte. Ihr geistlicher Onkel, den sie befragte, sah darin ein Zeichen, ins Kloster zu gehen. Das konnte sie aber nicht, was sie noch mehr unter Druck setzte. Den Bogen vom Feuer in sich zum brennenden Dornbusch und zum Gott Abrahams, Gott Israels und Gott Jakobs (Ex 3,1-6) fand sie nicht. Kein geistlicher Begleiterkonnte ihr aufzeigen, dass durch dieses Ereignis Gott mit ihr eine bewusste Geschichte wie mit Moses beginnen wollte. Heute herrscht im Raum der Kirche die große Klage, dass Gott sich zurückzieht. Man könne nur mit Mühe über ihn reden.
Andererseits wird seine Erscheinung in unserer Zeit nicht erkannt, und Menschen, denen sie zuteil wird, werden nicht ernst genommen.
Erleuchtung ist eine Erfahrung, bei der man zutiefst existentiell betroffen, selbst aber eher Zuschauer ist als Handelnder. Es geschieht etwas mit einem. Ein Mann drückt dieses Erlebnis während eines Selbsterfahrungskurses mit folgenden Worten aus: ,,Es war, als ob sich alles Leid und alle Ängste meines bisherigen Daseins zusammenballten, als ob mir der Boden unter Füssen weggezogen wäre und sich mein Ich in nichts auflösen würde. Im weiteren Verlauf des Kurses öffnete sich ein innerer Raum, dessen Kräfte mich wie ein Erdbeben schüttelten, beängstigend und beglückend zugleich. Ich wurde aus dem Rahmen der bisher gültigen, aber nicht mehr tragenden Vorstellungen und Überzeugungen hinausgeschleudert, und doch wusste ich, dass es so richtig war. Ich begann zu begreifen, dass in mir eine alte Welt gestorben und eine neue im Werden war, dass sich in dieser Gewalt aus der Tiefe Gottes Nähe verbirgt.
Diese Erfahrungen und die vieler anderer sagen: Es gibt einen Erlebnisgrund jenseits der Emotionen, jenseits von Sympathie und Antipathie, von Sexualität und Aggressivität. Er übersteigt alles andere an Intensität. Ein Hinweis dafür ist, dass vielen, die davon betroffen sind, als erstes das Wort „Feuer" kommt; es ist die höchste Energie, das nicht mehr zu überbietbare Erleben. Wenn Pascal unter diesem Eindruck vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs spricht, heißt das aber: Gott ist innen. Er ist in der Tiefe der Existenz. Er wird erfahren und ist nicht Ergebnis logischer Gedankenketten. Hier kommt Pascal dem heutigen Menschen entgegen. Der sucht Erfahrung und nicht Belehrung.

Die Frage bleibt: Wie war das in den Ursprüngen des Christentums?
Ohne Zweifel hatte Jesus Erleuchtungserlebnisse. Jesus sah nach seiner Taufe „den Himmel sich öffnen" (Mk 1,10). Der Geist treibt ihn sofort in die Wüste. Dies bedeutet, dass das Erlebnis so stark ist, dass er jetzt nicht zu den Menschen gehen kann, sondern das Erlebnis erst verarbeiten muss. Es öffnet sich der Himmel, aber auch die Hölle - er wurde vom Satan versucht und war bei den wilden Tieren - ein Bild dafür, dass er sich mit den dunklen Anteilen seines Menschseins auseinandersetzen muss.
Erleuchtungserlebnisse sind der Beginn von Wandlungsprozessen. Neue Kräfte der Seele tauchen auf und füllen das Bewusstsein eines Menschen mit neuen Inhalten. Aber sie müssen allerdings erst geordnet werden.
Nach einem Spruch im Zen sieht einer, der Satori hat, in einer Mauerblume die Schönheit der ganzen Welt. Es wurde auch gesagt, dass ein Erleuchteter einen Standpunkt über den Emotionen einnimmt, aber nicht emotionslos ist; sondern sogar deren Fülle und Intensität in sich trägt. Nach dem Bericht des Jesuitenpaters und Zenmeisters Hugo Enomya Lasalle verbinden solche Menschen spirituelle Tiefe mit sprühender Vitalität. Auf diesem Hintergrund dürfen wir die Bergpredigt Jesu betrachten. Er sieht in einer einzigen Wiesenblume mehr Schönheit als in einem orientalischen Märchenschloss(die „Pracht Salomos"). Aus der absoluten Fülle kann er sogar dem, der ihm den Rock nimmt, auch noch das letzte Hemd geben, aus einem Standpunkt jenseits von Sympathie und Antipathie, von Zuneigung und Hass kann er auch den Feind lieben und zur Feindesliebe aufrufen.
Ein anderes Dokument für Erleuchtung und Wandlung sind die Briefe des Apostels Paulus. Es sind die wichtigsten Urkunden des christlichen Anfangs und gelten als das Fundament des kirchlichen Lehrgebäudes. Der Verfasser wird heute allerdings von manchen kritischen Theologen in Frage gestellt. Er habe die Schlichtheit der Botschaft Jesu zu einer komplizierten Mysterienreligion verfälscht. In Wirklichkeit sind seine gewiss oft schwer verständlichen Texte Zeugnisse für Erleuchtung und Wandlung. Paulus stellt im Grunde seine eigene innere Geschichte dar, die so ganz anders ist als die der anderen Apostel, für ihn selbst auch so unbegreiflich, dass er am liebsten das Wort „Gnade" verwendet.
Seine Briefe werden etwas verständlicher, wenn wir das Erleuchtungserlebnis und den anschließenden Wandlungsweg mit berücksichtigen, es ist jenes Ereignis von Damaskus, wo er ein Licht sah und eine Stimme hörte, wo seine alte Welt einstürzte und eine neue aufgebaut wurde Er nennt das, was mit geschah, „Rechtfertigung, „Sein in Christus", „Neue Schöpfung", „Tod und Auferstehung"(Vgl. "(Vgl. Rö 4,25, 2Ko 5,17, Rö 6, 1-12). Es lässt sich nachweisen, dass alle Eigenschaften, die Graf Dürckheim der Erleuchtung zuschreibt, nämlich Überwindung der Angst, innere Fülle, universale Liebe und überweltliche Ordnung in seinen Schriften zu finden sind. Ein Beispiel: „ Seinetwegen (um Christus willen) habe ich alles aufgegeben und erachte alles als Verlust, sogar als Mist, um Christus zu gewinnen und mich in ihm zu befinden!" (Phil 3, 8,9) Yamada Koun würde Paulus ebenfalls ein großes Satori, also. ein Erleuchtungserlebnis bestätigen.
Welche Schlussfolgerungen können wir nun im Hinblick auf die Zeit der Religionslosigkeit, der Flucht ins Private und des chronischen Aufbegehrens ziehen?
1.
Gott ist innen, er ist in der Tiefe der Existenz! Der Weg dorthin ist die eigene Betroffenheit und der Sinn für das Echte! Wenn Gott in der Tiefe des Seins anwesend ist, dann ist er auch in der Tiefe unserer Gespräche zu finden. Das bedeutet, Gott ist da, wo wir einander ernst nehmen, achtsam und behutsam miteinander umgehen.
Nach Paul Tillich ist Gott das Symbol für das, was mich unbedingt angeht. Wir finden den Zugang zu Gott in allem, was uns zutiefst berührt.
Die wichtigsten Ereignisse im Leben sind Geburt, Hochzeit, Tod. Bei diesen Anlässen sind wir zuinnerst beteiligt. Da braucht man keine Ablenkung durch das Fernsehen. Die meisten spüren immer noch, dass dazu ein religiöser Akt gehört. Liebe und Leid sind die Weisen unseres Daseins, wo wir am meisten mit uns selbst in Kontakt kommen.
Die vielbeklagte Selbstverwirklichung, Individualisierung und Zuwendung zu sich selbst scheint der absolute Gegensatz zu den christlichen Werten zu sein. Die Menschen, die der Kirche kritisch gegenüberstehen, haben den Eindruck: „Christlich sein" heißt: nur für andere da sein und sich irgendwelchen Autoritäten unterwerfen! Im Ursprung des Christentums und bei den großen Gestalten der Geschichte ist es nicht so. Sie haben nie das Empfinden, etwas Fremdes übernommen zu haben, sondern zu einer tieferen, reicheren, schöneren Form des Daseins erwacht zu sein. Sie fühlen sich von schweren Lasten befreit. Es ist, als ob ein enges Gehäuse aufgesprengt worden sei. Der französische Journalist Andre´ Frossard, der als überzeugter Atheist ein mystisches Erlebnis hatte, spricht vom Schlamm, aus dem er befreit wurde und den er bisher gar nicht bemerkt hatte. Ein Mann um die 30, dem Ähnliches widerfuhr, träumte, dass er gerade das KZ verlassen habe. Ein solcher Vorgang ist allerdings mehr als die Befreiung aus den Zwängen der Tradition. Es öffnet sich ein innerer Raum, in dem die Herrschaft der blinden Affekte gebrochen ist. Es ist eine Freiheit, die tiefere Bindungen nicht ausschließt, sondern gerade ermöglicht. Die gewonnene innere Größe schafft die Nähe des Verstehens, weil auch der Sinn für die richtige Distanz vorhanden ist.
Damit ist die Freude verbunden, die Erich Fromm meint, die aus dem Sein, aus der überströmenden inneren Fülle kommt und nicht aus der oberflächlichen Bedürfnisbefriedigung und nicht aus dem gekauften Genuss, dem Zeichen des Mangels, der inneren Leere und Langweile. In einer Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus wird von seinem Aufenthalt in einer Höhle in der Zeit seiner Wandlung gesagt: „So finster seine Höhle war, ihn überflutete eine unsagbare Freude, und ein wunderbares Licht erhellte ihn"(2).
Nach den Worten des Paulus und vieler Mystiker ist es eine Kraft, die sie überwältigt, die größer ist als sie. Er sagt, dass „er von Christus Jesus ergriffen ist"(Phil, 3, 13). Andererseits ist es das Gefühl des ganz Eigenen, die Erfahrung eines Zustands, in dem er nicht mehr den von außen übernommenen Zielvorstellungen und Erwartungen, dem „ Gesetz", ausgesetzt ist, sondern ganz und gar er selbst ist. Hier ist eine Antwort zu finden auf die Frage "Wer bin ich?", ein Thema, das Ungezählte in Selbsterfahrungsseminaren in Therapie- und Seelsorgsgesprächen beschäftigt. Genau hier ist der Ansatzpunkt, an dem die allgemeine Ratlosigkeit gegenüber der oft unheilvollen Zeiterscheinung überwunden werden kann. Wem es gelingt, die Ursprungserfahrung des Christlichen wachzurufen, widerlegt die verbreitete Meinung, das Christentum sei lebensfeindlich, es unterdrücke die Gefühle und das eigenständige Denken. Er überzeugt aber nur dann, wenn diese Haltung im Gespräch und im Umgang miteinander unmittelbar spürbar ist.
Die beklagte Flucht ins Private kann auch als der erste Schritt einer Entwicklung verstanden werden, wo Eigenständigkeit wie Gemeinsamkeit ihren Platz haben. Wer sich auf die Prozesse des Unbewussten einlässt, findet neue Nähe, neue Verantwortung, neue Aufgaben und eine neue Bedeutsamkeit für andere. Entscheidend ist, ob man bei einem Rückzug ins Private weiß, was man tut, auf die inneren Gegebenheiten achtet oder in bloßer Oberflächlichkeit nur den Schwierigkeiten des Lebens ausweicht. Kein Aufruf von kirchlicher oder staatlicher Seite wird den Prozess der weiteren Individualisierung verhindern. Aber man kann sie sehr wohl zur Entwicklung eines neuen Menschen weitertreiben.
3.
Der Aufstand gegen die Tradition kann deshalb ebenfalls nur der erste Schritt hin auf das Ziel der größeren, umfassenderen Persönlichkeit sein. Das bloße ständige Kritisieren am Feindbild Kirche macht steril und erschöpft sich. Die Meinung, man müsse seinen Zorn über tatsächliche oder angebliche Missstände möglichst laut hinausschreien, übersieht allzu leicht, dass die Emotion die Wahrnehmung verzerrt und der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Wer ständig gegen alles, was von christlicher Seite kommt, anrennt und nie genug damit bekommt, die Schrecken des christlichen Mittelalters hervorzuholen und das Versagen der Christen anzuprangern, muss sich fragen lassen, ob er nicht in seiner Persönlichkeitsentwicklung steckengeblieben ist. Die Großen der Geschichte, die Wertvolles für ihr Land und für ihre Mitmenschen geleistet haben, sind über die Phase der verletzten Auflehnung hinausgegangen. Bei aller berechtigten Kritik sollte man bedenken, dass es Angst, Zorn und blinder, ungeprüfter Eifer waren, die Menschen in der Vergangenheit zu dem trieben, was wir heute als furchtbare Gräueltaten bezeichnen. Jeder, der seine Entrüstung laut von sich gibt, müsste sich prüfen, wie er mit seiner Angst und seinem Zorn umgeht, und ob sein Eifer auch erleuchtet ist
Wichtiger ist, die Quellen der eigenen Zufriedenheit, besser gesagt des Friedens, in sich selbst zu entdecken und die Verantwortung für seine Befindlichkeit nicht mehr fremden Autoritäten zuzuschieben, sondern sie voll und ganz selbst zu übernehmen. Es gilt, die Schätze der Tradition neu zu entdecken. Dazu müssen wir allerdings den Erlebnisraum aufschließen, in dem die Zeugnisse des Lebens Jesu, seines Todes und seiner Auferstehung, sowie die Schöpfungen der großen Mystiker des Mittelalters, z.B. der Sonnengesang des Hl. Franziskus entstanden sind. Wir kommen dann weiter, wenn wir im Bild gesprochen in uns selbst sechs Meter tief graben, um das Urgestein der spirituellen Meister zu finden. Nicht das Rechthaben wollen oder „Richtigstellen", nicht das gekonnte und geschliffene Argumentieren öffnet Menschen für die Wahrheit des eigenen Lebens und für die Motivationen eines besseren Lebens, sondern Achtsamkeit und Interesse für das, was einen selbst und andere bewegt. Nur auf diese Weise finden wir den Punkt in uns, in dem sich nach der Erfahrung der Mystiker aller Religionen Menschen, Kosmos und Gott berühren.

 


Anmerkung
1)Unter dem Titel „Ein „verheerendes „Urteil über die Politik und die Parteien berichtet die Augsburger Allgemeine Zeitung vom 24.04.03 von der neuesten Umfrage „Perspektive Deutschland". Danach vertrauen nur drei Prozent den politischen Parteien. Bei den Kirchen und anderen nichtpolitischen Organisationen hätten die Bürger das Interesse verloren. Lediglich elf Prozent der Bevölkerung sagten, sie hätten großes Vertrauen in die katholische Kirche, bei der evangelischen sind es 17 Prozent. 12 Prozent beurteilen die Aufgabenerfüllung bei der katholischen Kirche als gut, 18 Prozent bei der protestantischen.
Den Gewerkschaften ergeht es kaum anders. Nur 14 Prozent hat in die Arbeitnehmervertretungen noch hohes Vertrauen, ganze 15 Prozent nannten die Aufgabenerfüllung gut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zum Fest Kreuzerhöhung

Das Kreuz ist eine Herausforderung. Vor zwei Jahren erregte das Urteil des Bundesgerichtshofes über die Anwesenheit von Kreuzen in den Schulen großes Aufsehen in der Öffentlichkeit, sogar im Ausland. Es sind bis heute Stimmen zu hören, die in diesem Symbol die lebensfeindliche und depressive Seite des Christentums erkennen wollen. Es ist in der Tat wahr, daß es die Einstellung gab und immer noch gibt, daß echter Lebensfreude mißtraut wird und daß man sich auf die Worte Jesu vom Sichselbstverleugnen und vom Kreuztragen (Vgl. Markus 8, 34) beruft, um sich selbst und vor allem andere unter Druck zu setzen. Das Kreuz, noch mehr der Gekreuzigte wurde zum Anlaß, sich selbst und das Leben falsch zu verstehen.
Nicht nur christentumfeindliche Personen reiben sich an dem Satz: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat." (Johannes 3, 16).
Es geht einfach gegen jedes menschliche Empfinden, daß ein Vater seinen Sohn auf solch barbarische Weise umkommen läßt, um damit seine Pläne - seien sie noch so edel - zu verwirklichen. Die Verwirrung wird noch größer, wenn man in demselben Kapitel bei Johannes einige Zeilen weiter lesen kann: „Der Vater liebte seinen Sohn und alles legte er in seine Hand." (Johannes 3, 35). Kritisch könnte man nun fragen: Wen liebte nun der Vater mehr, die Welt oder seinen Sohn? Eines ist sicher: mit der Logik des Alltags kommen wir hier nicht weiter. Wir sollten zweierlei berücksichtigen: es handelt sich um Texte, in denen sich tiefe religiöse Erfahrungen niedergeschlagen haben. Ihr Inhalt entzieht sich einem Rahmen des Verstehens, der vom bloßen Intellekt bestimmt ist. Wir sollten gegenüber einem christlichen Dokument des Glaubens dieselbe Einstellung der Achtung aufbringen, die C. G. Jung gegenüber dem Tibetanischen Totenbuch fordert. Der Psychologe - so Jung - sollte sich bewußt sein, daß ein heiliger Text wie dieser einen unschätzbaren religiösen und philosophischen Wert darstellt, der nicht durch profane Hände entweiht werden sollte (1). Es gibt nicht nur ein Verstehen durch die Vernunft sondern durch das Leben! Gewiß ein brauchbarer Ratschlag im Umgang mit den Schöpfungen östlicher Weisheit aber auch mit denen der christlichen Religion.
Wir sollten sogar das Unverstandene und Ärgerniserregende der christlichen Glaubenszeugnisse wie ein buddhistisches Koan betrachten, jenes durch den Verstand nicht zu lösende Rätsel, das der Zenmeister seinem Schüler aufgibt. Wenn dieser z.B. fragt: „Hat der Hund die Buddhanatur?" sagt der Meister: Wu oder Mu, was soviel wie Nichts bedeutet. Nach den Maßstäben der Logik ein Unsinn, jedoch ergibt sich die Lösung über die Praxis des Meditierens. Das heißt, wenn der Schüler durch jahrelanges Üben in den Zustand der Erleuchtung kommt, wird ihm aufgehen, wie nahe ihm jedes Geschöpf z.B. ein Hund ist. Denken wir im christlichen Raum an jene Geschichte, wo der hl. Franziskus dem Wolf von Gubbio begegnet. Es trifft zu, daß hier ein Erleuchteter das Gute - die Gottesnatur oder die Buddhaschaft - selbst in einem Tier zu wecken vermag.
Wenden wir das Gesagte auf das Thema vom Kreuz und Kreuztragen an, heißt das: nur das gelebte Leben kann uns jenes Symbol, das soviel Widerstand hervorruft, öffnen. Dazu brauchen wir Zeit, Jahre oft Jahrzehnte.
Zunächst einige Anmerkungen zum Thema des Opfertodes Jesu. Kann es sein, daß Gott, der Vater, der die Liebe selbst ist, die Grausamkeit an seinem Sohn gewollt hat? Die ersten Christen und Jesus selbst sehen den Kreuzestod in einer Reihe mit der Verfolgung der Propheten der jüdischen Geschichte, die als unmittelbar von Gott Berührte von keiner menschlichen Institution sondern unmittelbar von ihm ihren Auftrag erhielten.
Weil „Gott anders ist" (2), waren auch sie radikal anders, standen sie gegen die Meinung der Zeit. Weil sie die Wahrheit darstellten in dem, was sie sagten und in dem, wie sie waren, passten sie in kein Klischee, nicht einmal in das eines Gottesmannes und religiösen Führers. (Vgl. Amos 7, 12 - 14).
Als solche wurden sie nicht anerkannt und nicht gehört und erlitten ein schweres Schicksal. Auf diesem Hintergrund ist es berechtigt zu sagen, daß Jesus deswegen sterben mußte, weil er voll und ganz zu dem stand, was die Wahrheit seines Lebens war. Hierin erfüllte er den Willen Gottes, welcher mit Verwirklichung seines Wesens Hand in Hand ging. Der grausame Tod war die Folge dessen, daß Jesus das Menschsein mit all seinen Gegensätzlichkeiten voll und ganz ausgetragen hat.

Das Kreuz: Schnittpunkt der Gegensätze

Das Kreuz stellt den Schnittpunkt der Linien dar, die menschliche Existenz ausmachen und in die sich Jesus hineingestellt hat. Es geht um die vertikale Ebene, wo nur Mensch und Gott wesentlich sind, und um eine horizontale, welche das Verständnis von Mensch zu Mensch und dessen Einbürgerung in diese Welt meint. Man könnte sich sogar vorstellen, Jesus hätte als Einsiedler irgendwo in Galiläa mit seinem Gott und mit ein paar Schülern in Frieden gelebt. Wahrscheinlich hätte ihm niemand etwas getan. Aber daß er sein Volk für die Herrschaft Gottes öffnen wollte, daß er mit seiner Überzeugung an die Öffentlichkeit trat, daß er gerade Jerusalem aufsuchte und sich der Führung des Volkes stellte, das hat ihn in die Mitte aller damals möglichen Spannungen gebracht und ihm das Leben gekostet.

Sein Kreuz auf sich nehmen heißt: der Wahrheit ins Auge schauen.

Um noch einmal Mißverständnisse abzuwehren: Sein Kreuz auf sich nehmen kann nicht heißen immer da Schwerere zu wählen, nur an den dunklen Seiten des Lebens Geschmack finden, sich immer neue noch drückendere Lasten aufladen, sondern der Wahrheit ins Auge schauen, anders gesagt: den Sinn für Wahrheit entwickeln. Die bedeutet, daß wir nicht vor den Problemen unseres Lebens davonlaufen, indem wir in ständige Ablenkung und oberflächliche Bedürfnisbefriedigung ausweichen.
Denn es ist die Wahrheit, daß unser Leben durchkreuzt wird. Damit sind unsere Pläne, Erwartungen und Hoffnungen gemeint, die so häufig und so brutal vom Schicksal, von unserm eigenen Unvermögen, von der Art und Weise, wie die Menschen um uns sind, gebremst, enttäuscht oder sogar zerbrochen werden.
Wir werden in die Gegensätze, welche die Dynamik des Lebens mit sich bringt - Nähe und Verlassenheit, Freundschaft und Ablehnung -, hineingezogen. Ohne daß wir es absichtlich wollen, sehen wir uns plötzlich mit dem Leid konfrontiert.
Unser Glaube an die Erhöhung des Kreuzes und des Gekreuzigten besagt, daß es einen Punkt in uns selbst gibt, in der Mitte unserer Existenz, der stärker ist als jeder Druck von außen, jede Angst und Dunkelheit.
Genau in diesen Punkt ist Jesus eingetreten und durchgegangen, und mit ihm die vielen, die wie er für die Wahrheit eingetreten sind.

Die Erhöhung des Kreuzes: Wer ist der Stärkere?

Was Überwindung von Leid und Todesangst sein kann, dafür liefern die Widerstandskämpfer des Dritten Reiches überzeugende Beweise. Neben den bekannten Namen wie Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp sei ein Mann angeführt, der als Rechtsanwalt in die Verschwörung des 20. Juli verwickelt war und Justizminister eines neuen Deutschlands werden sollte. Als gläubiger Katholik hatte er nach dem Fehlschlag mit seinem Leben abgeschlossen und eine solche innere Sicherheit und Überlegenheit erlangt, dasser dem Vorsitzenden des Volksgerichtshofes, dem berüchtigten Roland Freisler offen widersprach und ihm den Satz entgegenhielt: „Wenn ich hänge, müssen Sie mehr Angst haben als ich!" (3)
Wer dies im Angesicht des Todes sagen kann, war „durch", war an dem Punkt, der jenseits von Tod und Leben liegt. Dass wir selbst es sind, die durch müssen, daran soll uns das Kreuz mahnen, dem wir in unseren Kirchen, Wohnungen, auf Berggipfeln und öffentlichen Plätzen und Einrichtungen begegnen.

Anmerkungen:
1. C. G. Jung, GW XI, 532
2. Vgl. John A. T. Robinson, Gott ist anders, München 1963
3. Christ in der Gegenwart Nr. 11/97 / S 86
Auf Visionssuche gehen

Bei den Sioux Indianern ist es üblich - soweit die alten Riten noch lebendig sind - daß ein junger Mann auf Visionssuche geht. Er wird vom Medizinmann des Stammes mit Zeremonien und Gebeten, wozu auch der Aufenthalt in der Schwitzhütte gehört, darauf vorbereitet. Dann begibt er sich auf einen dafür vorgesehenen Hügel, um dort in völliger Abgeschiedenheit ohne etwas zu essen und zu trinken, im ständigen Gebet viervolle Tage zu verbringen. Das Alleinsein in freier Natur ohne Verwandte, Freunde und Nachbarn, wo wilde Tiere, Kojoten, Büffel oder Hirsche den Platz umschleichen, schafft einen ganz eigenen Erlebniszustand. Es ist dann so, daß einer Stimmen vernimmt, daß der Wind schreit, die Bäume flüstern, die Tiere einander antworten, daß bedrohende Wesen auftauchen, aber auch solche, die sich als hilfreich erweisen und Verbündete sein möchten; die die Gabe des Heilens verleihen und die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken. Die Indianer sagen, daß Visionen Botschaften von den göttlichen Wesen seien, daß sie das weitere Leben eines Mannes bestimmen, daß sie ihn erst erwachsen machen und ihm die Kraft dazu verleihen. Ohne Visionen sei ein Mann wahrhaftig arm.

Für uns klingt das recht fremd und unbegreiflich. Am allerwenigsten wird heute ein Exerzitienleiter oder geistlicher bzw. psychologischer Begleiter jemand raten, eine Vision zu erstreben. Gerade im theologischen Bereich werden Visionen eher negativ beurteilt und oft sogar davor gewarnt. Man denkt sofort an Privatoffenbarungen verschiedenster Prägung, die der gesunden Lehre widersprechen. Die Vision der Indianer hat jedoch nichts mit dem zu tun, was die Theologen ablehnen, eher schon mit dem, was mit dem hl. Franziskus geschah. Es heißt, dass er gerne in die Einsamkeit ging, sogar zur Nachtzeit einen Platz im Wald, auf einem Berg in einer Höhle oder in einer Waldkapelle aufsucht; er hatte die Erfahrung gemacht, dass man dann am ehesten Gott spürt, wenn man ganz in die Stille eintaucht und sich nicht durch eigene oder fremde Geschäftigkeit ablenken lässt.
Es wird berichtet, dass er schauerliche Kämpfe mit den Dämonen zu bestehen hatte, dasshm aber durch sein .intensives Gebet die innere Kraft zuwuchs, die Situation zu bestehen. Schließlich war es in der Einsamkeit des Berges Laverna, wo ihm in einer Vision die Wundmale Christi eingeprägt wurden. Dem gingen aber viele andere nächtliche Ereignisse voraus, wo sich ihm der Himmel und manchmal auch die Hölle auf tat und die sein Leben ganz und gar veränderten. Der Rat, vorsichtig bei Visionen zu sein, kann nicht heißen, den Wert der Stille missachten und sich dem unmittelbaren Wirken Gottes verschließen. Es ist sehr bereichernd, einmal ganz allein auf einer Berghütte oder in einem Wald in wachem Zustand eine Nacht zu verbringen. Wir werden erstaunt sein, was alles auf uns zukommt; die Geräusche vom Wind oder von Tieren werden uns Angst machen, aber uns dann vertraut werden. Wir werden erfahren, wie erfüllt und beglückend Stille sein kann, wie wir uns in einer Landschaft unter Wolken und Sonne zu Hause fühlen.
Um auf die Indianer zurückzukommen: es geht nicht um den Kontakt mit den Geistern, wohl aber mit unserem Inneren; mit dem, was uns bewegt, mit unseren schöpferischen Keimen. Es könnte sogar sein, dass man, was man vielleicht sonst nie tut, ein Gedicht schreibt, um die Stimmung auszudrücken.
Vision hat mit sehen zu tun. Wir lernen die Menschen und die Dinge um uns neu sehen, mit anderen Augen, d.h. deutlicher, gerechter, gütiger, gelassener und mit neuer Hoffnung und Zuversicht.

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