Der innere Weg

                                                         oder


                               Individuation, Entwicklungen, Phasen, Ziele

1. Von der Notwendikeit, von Individuation reden.

 

Mit Individuation verbindet sich für das naive Verständnis sofort Individualismus, eines der Grundübel unserer Zeit, wie man häufig hören kann. Der Trend zum Individuum scheint gleichbedeutend zu sein mit einer Distanzierung vom Lebenspartner, von der Familie, von Kirche und Gemeinwesen, überhaupt von jeder Verantwortung für das soziale Gefüge, um dann in einsamer Größe sein Selbst zu verwirklichen, d.h. seinen egoistischen Bedürfnissen und Wünschen nachzugeben.

Ob es nun tatsächlich so ist oder nur vermutet wird, fragwürdig bleiben Appelle und Aktionen für mehr Solidarität, um dieser Strömung Einhalt zu gebieten. Hilfreicher ist es, diese Erscheinung nach ihrem berechtigten Kern zu durchleuchten und die verschiedenen Äußerungen sorgfältig zu differenzieren. Es soll der Blick dafür geöffnet werden, daß der zu Recht oder Unrecht beklagte Rückzug ins Private (1) nur der Teil einer möglichen Entwicklung ist, welche die einzelnen zu mehr Gemeinsamkeit auf einer tieferen und umfassenderen Ebene führt. Es wäre dann gut, darauf zu achten, weshalb ein solcher Prozeß stecken bleibt und unter welchen Bedingungen er zu dem erstrebten Ziel gelangen kann.

 

Eine Metaebene für die Zerstrittenen.

 

Ein weiterer Grund, warum das Thema der Individuation von Bedeutung ist, ist die augenblickliche (verfahrene) Situation in der Kirche. Der Aufbruch vor 50 Jahren scheint verpufft bzw. von den entsprechenden Stellen blockiert zu sein. Es zeichnet sich eine Spaltung ab zwischen denen, die auf der Seite einer Weiterentwicklung stehen und die bestehenden Strukturen weiter öffnen möchten, und denen auf der anderen Seite, die die Veränderung der letzten Jahre innerlich nicht mitvollzogen haben, sich verunsichert und heimatlos fühlen und deshalb nach festeren Strukturen, nach entschiedeneren Aussagen von oben und nach einer möglichen Rückkehr zu früheren Zeiten rufen bzw. entsprechende Unternehmungen anstellen. Was bei den Richtungskämpfen meist übersehen wird ist dies: der Sieg einer Seite - ganz gleich welcher - wird nie den Graben zwischen den Fronten zuschütten und die Einheit bringen, dazu bedarf es einer Metaebene. Und diese ist nur über das Existentielle, über das je Eigene, d.h. über das Individuum zu erreichen. So ist es in der schwierigen Arbeit mit zerstrittenen Eheleuten. Eine Annäherung und Versöhnung erfolgt erst dann, wenn beide gelernt haben, von ihren ureigensten Gefühlen zu reden, anstatt um äußere Positionen zu kämpfen, einander zu entwerten und zu verletzen. Die Rückkehr zu sich selbst, wenn sie wirklich ehrlich und konsequent durchgetragen wird, erweist sich als der Schlüssel zum anderen.

Auf die kirchenpolitische Situation übertragen heißt das: wer nach innen geht, bringt den Prozeß weiter. Deshalb plädiert Hermann Stenger für eine „Kirche von innen", um die verhärteten Fronten aufzuweichen. (2)

Der Problemstau löst sich dann am ehesten auf, wenn die inneren Blockaden wie Angst und Mißtrauen voreinander beseitigt werden. Wenn es gelänge, angstfrei miteinander zu reden, wäre viel gewonnen. Der erste Schritt dazu, den jeder einzelne leisten kann, ist der der Selbsterfahrung und Arbeit an sich selbst, was im Begriff der Individuation enthalten ist.

 

Anwalt von Sinn. 

Ein noch wichtigeres Argument für das genannte Thema liefern deshalb - wie in diesem Zusammenhang schon angedeutet - die Fragen, die die Menschen quälen, da sind die  von außen kommenden Bedrohungen, der imer stärker grassierenden Pandemie, der Klimakatastrophe, der wirtschaftliche Einbruch, dazu die  kirchen- und gesellschaftspolitischen Konflikte.Sie schlagen sich als bedrängende Fragen im einzelnen nieder . Aber auch ohne die äußere Einwirkung stellt sich jedem die Frage: Wie kann ich Einsamkeit, Angst und Sinnlosigkeit überwinden? Wie begegne ich Krankheit, Leid und Tod, ohne daran zu zerbrechen? Welche geistige Orientierung gibt es, nachdem für einen großen Teil der Bevölkerung die kollektiven Obervorstellungen der Tradition sprich der Kirche zerbrochen sind? Nicht zu übersehen ist, daß diese Fragen zuinnerst subjektiv sind, d.h. vom Subjekt her, und nicht objektiv, d.h. durch eine allgemeine Lehre oder durch eine kollektive Bewegung gelöst werden können, vielmehr ist die Antwort, wenn sie tragen soll, Ergebnis eines ganz persönlichen Ringens. Der Prozeß der Sinnfindung, ausgelöst durch unverfügbare, meist leidvolle Vorgebenheiten, ist der Kern und die Spitze dessen, was Jung mit Individuation meint.                                                                                                                                                                                                                                                                                      Den Menschen in ihrer existentiellen Not beizustehen - niemand wird leugnen, daß dies genau der Auftrag und die Sendung der Jünger Jesu ist (Vgl. Mt 11,28f).Hinzu kommt, daß der Theologe heute in seiner Präsenz an öffentlichen Einrichtungen wie Schule, Universität und Klinik einem immer stärker werdenden Rechtfertigungsdruck unterliegt. Eine bloße Berufung auf den Auftrag Jesu wird eine säkulare Umgebung nicht überzeugen, wohl aber, wenn er eine Fachkompetenz für Sinn, die den Rahmen der Konfession und Weltanschauung übersteigt, ausweisen kann. Diese ist aber in erster Linie Ergebnis des eigenen Gewordenseins. Damit verbindet sich noch ein Aspekt, welcher der Schlüssel zum Verständnis von Individuation und seelsorgerlicher Aufgabe sein kann. Das je Eigene läßt sich nicht von außen übernehmen, sondern muß von innen erfahren werden. Konkret bedeutet das: das altruistische Motiv, für andere ein kompetenter Anwalt für Sinn zu sein, reicht nicht als Anstoß für den eigenen Individuationsprozeß, sondern es verhindert eher den Erwerb der Befähigung. Wer hingegen die Not der Menschen als die eigene erkannt hat und sich ihr nicht mehr entzieht, wird wie von selbst auf den Weg einer inneren Entwicklung gebracht. Wer in diesem Sinn das je Eigene sieht und  den je eigenen Ausweg aus der Krise sucht und dies um seiner selbst willen, tut es auch für andere, so paradox es klingen mag. Bei Jung ist dieses Individuelle, das nur über den mühsamen Weg der Ganzwerdung gefunden werden kann, zugleich das Universale, d.h. das für alle Bedeutsame. Anders ausgedrückt: wer Angst, Sinnleere und Einsamkeit, Enttäuschung und Leid bei sich selbst ausgestanden und durchlitten hat und daraus als gereifter Mensch hervorging, wird von selbst zur Hilfe, biblisch ausgedrückt zum „Segen" für andere (Vgl. Gen. 12,2).

Die Eigenschaften der „Missionare" 

Der Pastoraltheologe Stefan Knobloch fordert für die „Missionare", die im Sinne einer Subjektwerdung des einzelnen an einer missionarischen Gemeindebildung arbeiten, „sie sollten Menschen sein, die Aushandlungsprozesse in Gruppen anregen und begleiten könnten, die Prozeßbegleiter wären und das Erzählen der anderen auslösten . . . . Sie müßten Menschen sein, die Leben deuten können und bei alledem nicht „außen vor" bleiben dürften . . . . .Gesucht sind Missionare, die zuerst sich selbst und ihre Glaubens - und Lebensgeschichte reflektiert haben . . . . Gesucht sind Leute, die in ihrer Ausbildung eine hohe Identität mit sich selbst gewonnen haben . . . . Das Missionarische ist vielmehr ihr „Eigenes", . . . .das sie nicht nur alle heiligen Zeiten durch andere aktivieren lassen dürfen." (3)                                Um die missionarische Kompetenz im Sinne Knoblochs noch zu konkretisieren: damit „Aushandlungsprozesse" in Gruppen möglich werden, d.h. damit Menschen über ihre Glaubens - und Lebenserfahrung reden, braucht es die Fähigkeit zu verstehender und schützender Intervention, zu geistiger Weite, die andere Denkansätze und andere Erfahrungen einordnen und gelten lassen kann, zu emotionaler Autonomie, die sich nicht in dysfunktionale und zerstörerische Prozesse verwickeln läßt. Man kann die Anforderungen in dem einen Satz zusammenfassen: Wer wesentlich zur Subjektwerdung der Menschen beitragen will, d.h. wer den Menschen den Raum geben will, sich selbst auszusprechen und zu realisieren, muß selbst zum Subjekt geworden sein. Damit wird „Individuation" zu einem zentralen Thema.

 

2. Entwicklungen und Phasen.

Nach C. G. Jung (1875 - 1961) ist Individuation ein Differenzierungsprozeß, „ der die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zum Ziel hat", gleichbedeutend mit Selbstfindung, Selbstverwirklichung, Selbstwerdung und Ganzwerdung der Persönlichkeit (4). Jung hatte an Patienten beobachtet, daß Wandlung und Reifung keineswegs mit der Behandlung abgeschlossen waren, sondern anschließend dauerhaft weitergingen. Er vermutete eine innere Dynamik jenseits des Bewußtseins, welche dem unmittelbaren Einwirken des Willens entzogen ist, die aber den Prozeß des personalen Wachstums auslöst und weiter treibt. Er kam sogar zu dem Schluß, daß die Neurose mit ihrem Leid und ihrer Dunkelheit den Sinn hat, den Menschen auf den Weg der Ganzwerdung zu bringen.                                 Entwicklungen sind jedoch nicht der analytischen Arbeit vorbehalten. Sie werden auch nicht von ihr ausgelöst, sondern eher als schon im Fluß befindlich angetroffen. Damit ist gemeint: Die Leute gehen nicht grundlos zum Psychotherapeuten, sondern weil ein Einbruch in ihr Leben eine Bewegung schon angestoßen hat. Um sich selbst und andere besser zu verstehen, ist es hilfreich, den Blick für solche Erscheinungen zu schärfen.                                                                                                                                                                                                                                                                                     Jung unterscheidet in seiner Abhandlung über das Trinitätsdogma (5) drei Stufen der Bewußtseinsdifferenzierung bzw. der Entwicklung.                                                                                                        Die erste Stufe ist „die des Vaters", in welchem man noch Kind und von einer bestimmten vorgefundenen Lebensform abhängig ist, die „eines Habitus, der Gesetzescharakter hat". Damit meint Jung „einen hingenommenen, unreflektierten Zustand, ein bloßes Wissen um ein Gegebenes ohne intellektuelles oder moralisches Urteil." (6)                                                                                                                           Die zweite Stufe, „die des Sohnes", ist durch eine bewußte Unterscheidung vom Vater und dem von ihm repräsentierten Habitus gekennzeichnet. Eingeschlossen ist damit ein gewisses Maß an Erkenntnis der eigenen Individualität; das bedeutet: zu erfahren, daß man anders ist, anders denkt und anders fühlt. Das Wesentliche des zweiten Zustandes ist das Erwachen des kritischen Denkens, der Reflexion und der bewußten Entscheidung. Er steht im Gegensatz zum früheren, der unterschwellig immer noch vorhanden ist, und enthält durch das Aufsteigen bisher noch unbewußter Impulse viel Konfliktstoff. Er ist „ein Konfliktzustand par excellence". (7)                                                                                                                                                                                                                                           In der dritten Phase, „der des Heiligen Geistes", geht es darum, die Grenzen des kritischen, rein rationalen Denkens anzuerkennen, einzusehen, daß die Vernunft allein nicht Quelle der ausschlaggebenden Erkenntnisse und Entscheidungen ist. Es gilt, sich einer inspirierenden Instanz zu unterwerfen, konkret: seine Intuition zu entwickeln und sich einer inneren Führung anzuvertrauen.Es sei noch kurz angemerkt, daß es sich hier nicht um eine psychologische Deutung des Trinitätsdogmas im Sinne von: es ist nichts als, also um eine Psychologisierung und Entwertung des Dogmas handelt, sondern um eine Analogie auf der Ebene menschlicher Erfahrungen. Das heißt, der Begriff des „Vaters" und des „Sohnes" im Sinne Jungs ist nicht unmittelbar auf Gott - Vater, Gott - Sohn bzw. Hl. Geist übertragbar.

Die Einteilung Jungs entspricht im großen und ganzen dem, was man in Anlehnung an den Sozialpsychologen Warren G. Bennis (8) als Phase der Abhängigkeit ( Dependenz ), der Gegenabhängigkeit ( Contradependenz ) und der Unabhängigkeit ( Independenz ) bezeichnen kann.

Personen, die in der Phase der Abhängigkeit leben, suchen in wesentlichen Belangen ihres geistigen und religiösen Lebens Weisung bei höheren Autoritäten; sie brauchen feste Strukturen und Vorgegebenheiten. Sie sind eher Ich - Schwache, die sich nicht auf eigenes Urteil, eigene Kreativität, eigene Intuition und eigenes Denken verlassen können; im Grunde ihres Herzens herrscht die Angst, die sie allein nicht aushalten können. Sie brauchen zur Stützung ihres schwachen Ichs die Zustimmung Gleichgesinnter. Eben deshalb tun sie sich schwer mit Toleranz, mit der Fähigkeit, das Anderssein anderer auszuhalten oder sogar zu verstehen. Am liebsten wäre es ihnen,wenn alle so dächten  wie sie. Wenn es ihnen möglich ist, d.h. wenn sie eine entsprechende Position innehaben, üben sie auf die eigenen Reihen Druck aus und wenn möglich auch auf Außenstehende. Oder anders gesagt: Eine Gemeinschaft, die aus „Abhängigen" besteht, ist gekennzeichnet durch einen enormen inneren Zwang, durch den der Zusammenhalt gewährleistet wird. Der Bekehrungseifer, der in solchen Gruppierungen anzutreffen ist, spricht meist eher für die vorhandene Unfreiheit und die belastende Unsicherheit als für die Liebe zur Wahrheit. Die Bereitschaft zur Unterwerfung und autoritärer Leitungsstil bedingen einander. Im Innersten sind Erwachsene mit dieser Einstellung Kinder geblieben - zumindest was den Bereich ihres weltanschaulichen und religiösen Lebens betrifft. Man kann diesen Abschnitt auch als Stufe der Verschmelzung bezeichnen - sowohl mit den äußeren Strukturen und deren Repräsentanten wie untereinander. Man empfindet die hohen Ideale, die man in diese hineinprojiziert, als Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls und umgekehrt einen Angriff auf sie als eigene Bedrohung. Man muß zugeben, daß bei extremen Gruppierungen das Gefühl der Zusammengehörigkeit wie auch der tatsächliche, aufopfernde Einsatz durchaus sehr hoch sein kannt. Im Grunde ist es die innere Struktur des Familienverbandes, welche - so Jung - eine Identität d.h. psychische Gleichsetzung des Unbewußten der einzelnen zur Voraussetzung hat.

Gegenabhängigkeit und Autonomie.

Die Phase der Kindheit überwinden, mündig werden, Emanzipation aus unreflektierten, beengenden Vorstellungen und Lebensformen, darüber gibt es seit 200 Jahren einen allgemeinen Konsens unter denen, die sich einer intellektuellen Redlichkeit verpflichtet und als "aufgeklärt"fühlen. Bei der Anwendung der „reinen Vernunft" wird jedoch meist übersehen, nach den psychologischen Grundlagen des eigenen Denkens zu fragen. Man will ungern wahrhaben, daß die Ausrichtung unserer Gefühle das Ergebnis der Gedankengänge mitbestimmt. Anders ausgedrückt: Emotionalität, Sympathie und Antipathie, Angst und Abwehr bilden primär den Rahmen, in dem sich die Vernunft entfaltet. Streng genommen müßte man heute nicht vom Ende der Aufklärung, sondern von deren Ergänzung d.h. Ganzwerdung reden, die durch die Bewußtwerdung der psychologischen Voraussetzungen des Denkens erreicht wird. Damit erhält die Psychoanalyse, welche diese Aufgabe beinhaltet, eine entsprechende Bedeutung für das Finden der Wahrheot wioe für das Zusammenleben.                                                                                                                                                                                              Um konkret zu werden: Die Phase der Persönlichkeitsentwicklung, die Jung als die des Sohnes bezeichnet, beinhaltet die kritische Einstellung zur Tradition, zu deren Werten, zu Institutionen und Personen, die sie vertreten. Nun läßt sich beobachten, daß Individuen, die zum kritischen Denken erwacht sind und sich gegen Autoritäten auflehnen, noch lange nicht autonomen Wesen sind. Sie sind oft geradezu fixiert auf alles, was nach Strukturen, Ordnung und Autorität aussieht, um es zu bekämpfen (9). Sie haben im Grunde (ganz wörtlich) ihr Eigenes noch nicht gefunden und sind noch nicht wirklich frei, sondern immer noch abhängig, aber nicht in der Form der Anpassung, sondern der Auflehnung.

Weil die Gefühls - und Bedürfnisrichtungen der Abhängigen und Gegenabhängigen einander entgegenstehen, sind authentische Beziehungen, angstfreie Kommunikation und gegenseitige Annahme nicht möglich. Der Konflikt in der Kirche und auch in der Gesellschaft  beißt sich wesentlich an diesem Punkt fest. Was für die einen (die Abhängigen) Sicherheit und Geschlossenheit bedeutet, nämlich eindeutige Ausrichtung nach oben, feste Strukturen, Festhalten am Alten, (scheinbar) Bewährten, ist für die anderen (die Gegenabhängigen) Einengung, Entmündigung und Unterdrückung des Geistes. Und umgekehrt: was für diese Befreiung, Entfaltung und Fortschritt ist, erscheint den anderen als Bedrohung. Wenn keine Vermittlung zwischen den Fronten möglich ist, dann geschieht meist  Rückzug in eine elitäre Gruppe mit derselben Eisntellung oder  in das  Private voller Enttäuschung und voller Wunden, in eine Art von Unabhängigkeit, die man eher Beziehungslosigkeit oder Gleichgültigkeit nennen kann. Der scharf sezierende Intellekt, der über alles, was nicht in seinen Horizont paßt, sein Urteil fällt, kann auch furchtbar einsam machen. Er hindert daran, andere Menschen zu verstehen und ihnen nahe zu kommen. Die ungelösten Konflikte - ob in der Ehe, in der Kirche oder in der Gesellschaft - sind immer auch Geschichten von steckengebliebenen persönlichen Entwicklungen. Ein Prozeß geht dann weiter, wenn tiefere Gefühle zugelassen werden, die die Fixierung an den Gegner ablösen. Damit geht auch die Einsicht einher, daß es Dinge gibt, die uns nicht über die Vernunft, sondern  über das Erleben und über die Intuition zugänglich werden; daß es noch andere Erkenntnisquellen als die der Ratio gibt und die dann maßgebend werden, wenn es um den Umgang miteinander, um Versöhnung, um Zuneigung und Liebe, um Sinn als den Inbegriff einer letzten, unverfügbaren Bezogenheit geht, um das, was das Leben unzerstörbar und wertvoll macht.

Die dritte Stufe der Individuation, die mit dieser Einsicht erreicht wird, ist quasi eine Rückkehr zum Modus des Kindes in dem Sinn, daß man sich wie ein Kind öffnet und empfängt, daß man die ausschließliche Selbständigkeit opfert, daß man Wirklichkeiten anerkennt, die über einem  stehen,  die wir nicht begreifen können, die aber uns ergreifen, wobei Vernunft und Reflexion als die Errungenschaften der zweiten Stufe nicht verloren gehen dürfen. Das Ich wird in diesem Wandlungsprozeß nicht seiner Funktion beraubt, sondern in einen größeren Zusammenhang, dem Selbst, aufgenommen.                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Kitisches Denken mit religiöser Ergriffenheit, den Verstand mit dem Gefühl, die Kraft des Unbewußten mit dem Licht des Bewußtseins zu verbinden, das ist das eigentliche, lohnende Ziel jeder Bemühung um personale Entwicklung.

 

3. Soziale Aspekte der Individuation.

 Nach Jung bedeutet Individuation „zum Einzelwesen werden und insofern wir unter Individualität unsere innerste , letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst zu werden. Man könnte „Individuation" darum auch mit „Verselbstung" oder mit „Selbstverwirklichung" übersetzen" (10).

Sofort drängt sich die Frage auf: Wo bleibt das Soziale? Wird hier nicht doch ein Individualismus recht eigener und elitärer Art gepflegt?

Man muß zugeben: mit dem Beginn einer eigenen Entwicklung eines erwachsenen Menschen werden die Beziehungen zum sozialen Umfeld schwer belastet, wenn nicht sogar abgebrochen. Wer anders ist oder anders denkt, kann als Gatte/in oder als Vertreter eines geistlichen Berufes die eingespielte Rolle nicht mehr wie bisher erfüllen. Die meisten reagieren mit Enttäuschung, Ärger und Vorwürfen; volles Verständnis wird nur der aufbringen, der selbst einen eigenen Weg gegangen ist. Subjektivismus und Individualismus als Bezeichnungen für ungehemmten Eigensinn werden leicht in den Mund genommen, sie treffen aber nur ungezügelte Ausdehnung des Ichs nach außen z.B. Karrierestreben oder starre Rechthaberei, nicht aber , wenn sich jemand, durch innere Not gezwungen, zurückzieht einfach, weil er nicht mehr weiter weiß und weil er für sich Zeit braucht. Entscheidend ist, ob einer den Prozeß so durchsteht, daß er auch wieder zu den Menschen findet.

Individuation bedeutet nach Jung „geradezu eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen".... Wenn nämlich die Eigenart des Individuums genügend berücksichtigt wird, so die Begründung Jungs, so läßt dies eine bessere soziale Leistung erhoffen, als wenn sie vernachlässigt oder gar unterdrückt wird. Die Eigentümlichkeit des Individuums ist eigentlich nur die Differenzierung von Funktionen und Fähigkeiten, die an und für sich universal sind.

„Individuation kann daher nur einen psychologischen Entwicklungsprozeß bedeuten, der die gegebenen individuellen Bestimmungen erfüllt, mit anderen Worten, den Menschen zu dem bestimmten Einzelwesen macht, das er nun einmal ist" (11). Eine Behinderung der Individualität bedeutet nach Jung eine künstliche Verkrüppelung, und eine soziale Gruppe, die aus verkrüppelten Individuen besteht, kann keine gesunde und auf die Dauer lebensfähige Institution sein. „Denn nur diejenige Sozietät, welche ihren inneren Zusammenhang und ihre Kollektivwerte bei größtmöglicher Freiheit des einzelnen bewahren kann, hat eine Anwartschaft auf dauerhafte Lebendigkeit". Der Prozeß der Individuation führt nicht in die Vereinzelung, sondern in einen intensiveren und allgemeineren Kollektivzusammenhang (12).

Die bessere soziale Leistung, dauerhafte Lebendigkeit, größtmögliche Freiheit des einzelnen bei einem intensiveren und allgemeineren Kollektivzusammenhang als Ergebnis der Individuation erscheint als ein faszinierendes Ziel, aber zugleich auch wie die Quadratur des Kreises. Es sind die Punkte , um die in der Kirche und auch anderswo gestritten wird. Die bisherige Erfahrung ist, daß die höhere Dichte einer Gruppe mit steigender Unfreiheit des einzelnen erkauft wird. Der Vergleich mit den Sekten und extremistischen Bewegungen drängt sich auf. Allerdings beschränkt sich diese Erfahrung auf nichtreflektierte Gruppen d.h. wo der Gruppenprozeß ungesteuert seine eigene Dynamik entfaltet. Worum es hier geht, ist die „reflektierte Gruppe" (13) - ein Begriff  der Würzburger Synode (1971 - 1976) - wo der Gruppenprozeß so eingeleitet wird, daß eine größtmögliche Entfaltung des einzelnen zu einer immer stärkeren Dichte der Gruppe führt. Der Weg dahin ist allerdings angstfreie Kommunikation, gegenseitige Annahme und gegenseitiges Verstehen - Bedingungen, die der Leiter ermöglichen muß. Dies hängt wesentlich von dessen sozialer Kompetenz und dessen Persönlichkeitsumfang ab. Hierin gibt es erhebliche Unterschiede und damit entsprechende Blockaden oder Chancen für die Gruppe.

Mit wachsender geistiger Weite, welche die Bewußtwerdung unbewußter seelischer Inhalte mit sich bringt, erweitert sich der Kreis der Personen, mit denen wir authentische Beziehungen aufnehmen können, d.h. die wir verstehen und von denen wir verstanden werden.

Betrachten wir noch einmal die verschiedenen Stufen personaler Entwicklung. Wer noch im Zustand der Abhängigkeit, des unreflektierten Eingebundenseins in die Tradition lebt, kann nur mit seinesgleichen, d.h. nur mit solchen, die mit ihm denselben engen Rahmen des Denkens und der Lebensform teilen, angstfrei kommunizieren. Er kann nicht über diesen Rahmen hinaus schauen, d.h. zwischen ihm und Vertretern einer anderen Religion, Weltanschauung oder auch nur einer anderen politischen Einstellung wird immer eine Mauer sein. Am wenigsten kommt er mit denen klar, die seine Grundüberzeugungen in Frage stellen. Ist er Leiter einer Gemeinde, so werden sich die kritisch Denkenden sehr bald zurückziehen, weil sie mit dem, was sie quält und beschäftigt, weder in der Predigt noch in Diskussionen vorkommen. Ein Seelsorger dieser Art erreicht nur solche, die in den traditionellen Raum der Kirche hineingewachsen sind und diesen nie bezweifelt haben. Ähnlich ist es mit Verlautbarungen von oberster Stelle. Sie müßten daran gemessen werden, ob sie kritischen Anfragen standhalten oder ob sie die volle Zustimmung schon voraussetzen.

Andererseits: der überwiegend Kritische kommt auch nur bei denen an, die so wie er in Distanz zu den traditionellen Autoritäten stehen und von ähnlichen Affekten besetzt sind. Er übersieht, daß er durch seine ablehnende Haltung, durch affektgeladene Äußerungen diejenigen verunsichert und verletzt, die seine Entwicklung nicht durchgemacht haben und seinen Gedankengängen nicht folgen können.

Ganz allgemein gilt: Ein echter Fortschritt braucht auch den Ausgleich mit der Tradition. Und der geschieht dann, wenn man die Schätze der christlichen Vergangenheit neu entdeckt aber zugleich das Ungereimte und Ungelöste der eigenen sowie der kirchlichen Geschichte in den Blick bekommt, annimmt, und damit den individuellen und kollektiven Schatten bewältigt. Wer schon einmal die kritischen Anfragen, Verunsicherungen und negativen Affekte gegenüber der Kirche bei sich durchgedacht, durchgelitten und ausgetragen und trotzdem ein grundsätzliches Ja zu ihrer Existenz gefunden hat, hat die Befähigung zur geistigen Führung über den traditionellen Rahmen hinaus.  Er kann den annehmen, der aus naiver Kindlichkeit zu dieser Kirche steht, aber auch den verstehen, der sich an ihr reibt, von ihr enttäuscht und verwundet wurde.

Allgemein läßt sich sagen: Der Wirkungskreis eines Seelsorgers, eines Psychotherapeuten und eines Pädagogen reicht so weit, als er die Konfliktfelder, in welche die Menschen verwickelt sind, bei sich gelöst hat. Darin liegt das Ziel der Individuation. Es ist der anzustrebende größere Umfang der Persönlichkeit. Von ihm hängt es ab, welchen Menschen wir zum Heil sein können und welche in der Kirche Platz haben. In diesem Sinne ist das je Eigene auch das Universale.

 

4.   Das Selbst als Grund und Ziel der Individuation. 

Bei den hohen Zielen der Individuation könnte das Mißverständnis auftauchen, als sei hier eine heroische Leistung gefordert. Dem ist entgegenzuhalten, daß es sich hier um einen Vorgang handelt, der unserem Willen nicht unmittelbar unterliegt, sondern - vergleichbar dem körperlichen Wachstum - von einer außerhalb des Bewußtseins liegenden Instanz angeregt und gesteuert wird. Jung hat diesen fiktiven Punkt aufgrund von Beobachtungen postuliert als das Zentrum und den Umfang der Gesamtpersönlichkeit d.h. aller unbewußten und bewußten Inhalte und Vorgänge der Psyche und ihn im Unterschied zum kleinen, vordergründigen Ich, welches nur das Zentrum des Bewußtseins ist, das Selbst genannt. Als zentrale, eigentätig wirkende Kraft, als Archetyp der Ganzheit (14) ist das Selbst sowohl der schöpferische und entelechiale Keim als auch Ziel und Umfang der Individuation.

Wesentliche Bestimmungen sind Vereinigung der Gegensätze, Numinosität, schöpferischer Charakter und Sinnhaftigkeit.

Die Vereinigung der Gegensätze (Complexio oppositorum) ergibt sich aus der Definition des Selbst als der Ganzheit der Persönlichkeit. Das heißt, das Selbst ist der Grad an persönlicher Reife, in welcher  die Punkte unseres Lebens, die uns zu zerreißen drohen, zusammengebracht sind. Die Erfahrung des Selbst ist deshalb ein Zustand äußerster Harmonie und inneren Friedens (15). Dies ist die Voraussetzung für den Frieden miteinander. Denn die eigenen ungelösten Anteile der Persönlichkeit werden nicht mehr in den Gegenr projiziert. so ist die Vereinigung der Gegensätze  ein anderes Wort für die Lösung der Probleme, die die Menschen quälen, unter anderem wie sich Nähe mit Distanz, eigene Identität mit den Anforderungen der Umgebung, die Ansprüche der Triebe mit dem geistigen Erleben verbinden lassen.

Besonders bedrängend ist die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Leids und aller Negativseiten des Lebens wie Krankheit, Alter und Tod. Jeder wird schließlich zu dem Punkt kommen, wo er es aufgibt, eine Antwort auf dem Weg des rationalen, aktiven Denkens zu suchen. Entweder er verzweifelt oder ihm wird die Erfahrung des Selbst mit seinem numinosen Charakter zuteil. Damit ist ein geistiges Erleben, ein Ergriffensein gemeint, welches sich etwa in den Worten ausdrückt: Jetzt ist alles gut. Das kleine Ich ist in diesem Augenblick aller Bedrängnis und Angst enthoben und in einem größeren Zusammenhang aufgehoben. Damit hat es seinen Sinn gefunden. Der Grund und die handelnde Instanz ist in diesem Fall, tiefenpsychologisch gesagt, das Selbst, vom Glauben her gesehen ist es die Gnade Gottes, welche sich der psychischen Instanz wie eines Organs bedient.

Die geistige Entwicklung im Sinne der Emanzipation d.h. der Loslösung von der Tradition läßt sich nicht aufhalten. Der moderne Mensch will unhistorisch sein und wehrt sich gegen Vereinnahmung durch Tradition und Kollektiv. Eine weitreichende Entwurzelung und Entsolidarisierung ist aber nicht zu übersehen. Jeder, der sich für das allgemeine Klima verantwortlich fühlt, kann durch seinen eigenen Weg dazu beitragen, die schon laufende Entwicklung aus den Sackgassen heraus zu ihrem Ziel zu führen, welches kritisches Denken, numinose Ergriffenheit, Neuentdeckung der Tradition, gegenseitige Annahme und neue Nähe umfaßt.

 

 

Anmerkungen

1. Vgl. Alexander Foitzik, Sind wir ein Volk von Egoisten? In: Herder Korrespondenz 46 (1992) 297

2. Vgl. Herman Stenger, (Hrsg), Eignung für die Berufe der Kirche. Klärung, Beratung, Begleitung. Unter Mitarbeit von Karl Berkel, Klemens Schaupp, Friedrich Wulf, Freiburg i. Br. 3 1990,117

3. Vgl. Stefan Knobloch, Missionarische Gemeindebildung, Zu Geschichte und Zukunft der Volksmission, Passau 1986/237

4. C. G. Jung, Zwei Schriften über Analytische Psychologie, GW, Bd 7,191

5. ders. Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, GW Bd 11,197

6. ebd.

7.  ebd.

8. Vgl. Warren G. Bennis, Entwicklungsmuster der T - Gruppe, in L. P. Bradford, J. R. Gibb und K. D. Benne,  Gruppentraining, T - Gruppentheorie und Laboratoriumsmethode, Stuttgart 1972, 270f

Vgl. auch   Erik Erikson, Identität  und Lebenszyklus, Fm, 1959

9. ebd.

10. C.G. Jung, Zwei Schriften über analytische Psychologie, GW, Bd 7, 191

11. ebd.

12. ders. Psychologische Typen, GW, Bd 6, 477

13. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschluß Jugendarbeit, 301

14. Im Lexikon Jungscher Grundbegriffe wird der Begriff der Archetypen wie folgt definiert: „Die Archetypen sind unsichtbare und unanschauliche Wirkfaktoren im Unbewußten des Menschen. Sie bilden die Strukturdominanten der Psyche, indem sie das seelische Erleben ordnen und die Bilder und Motive im Unbewußten nach bestimmten Grundmustern anordnen.......Die Archetypen sind Bereitschaftssysteme, die das seelische Erleben anordnen und bewirken und die Erscheinungsbilder strukturieren -" (Lexikon Jungscher Grundbegriffe, hgg. Von Helmut Hark, Olten 1988/26).

 

Weiterführende Literatur:

Biser Eugen, Glaubensprobleme, Augsburg 1970

Heimler Adolf, Selbsterfahrung und Glaube, München 1976

Jakobi Jolande, Der Weg zur Individuation, Olten 1971

C.G. Jung, Der Mensch und seine Symbole, Olten 1993

Von Franz Marie - Louise, C. G. Jung  Sein Mythos in unserer Zeit, Zürich 1996Array