Predigt zum Sonntag  13.September 2020

24. Sonntag - Lesejahr A

1. Lesung (Sir 27, 30 - 28, 7)
2. Lesung (Röm 14, 7 - 9)
Evangelium (Mt 18, 21 - 35)

Den Teufelskreis durchbrechen

Wir sind wie die andern Diener über das Handeln des undankbaren und bösen Knechts entsetzt.
Aber wir hören  eine Geschichte, die uns einen Spiegel vorhalten will.
So sind wir im Umgang miteinander oder so könnten wir sein::                                                                gnadenlos, eng und kleinlich, hart und unbarmherzig                                                                            oder  großzügig und verständnisvoll.
Die Bilder der Hl. Schrift stellen die Abgründe des menschlichen Herzens dar; sie wollen aufzeigen, wie Menschen miteinander umgehen und wozu sie fähig sind.
Die Frage wird  uns immer neu gestellt:                                                                                               Was ist von uns verlangt, damit Unrecht, Rache und neues Unrecht aufhören?                    
Petrus formuliert das Problem mit den Worten:
"Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben?"(Mt 18,21). Wir hören dann das recht eigenartige Wortspiel von "sieben und siebzig Mal". Jesus nimmt Bezug auf eine Stelle im Alten Testament, das von Lamech, einem Nachkommen Kains handelt.
"Lamech sagte zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, / ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede! / Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde / und einen Knaben für eine Strieme.
Wird Kain siebenfach gerächt, / Lamech siebenundsiebzigfach".
(Gen 4,23-24)
Schauen wir noch genauer hin: "Ein Mann für eine Wunde, ein Knabe für eine Strieme"! Es ist eine Maxime, die Angst und Schrecken verbreitet.
Es ist die Geschichte der Gewalt, die Geschichte Kains, der seinen Bruder Abel erschlagen hat, ins Maßlose, fast bis ins Unendliche gesteigert. Wie dies konkret aussieht, bekommen wir fast jeden Tag zu sehen: Zerfetzte Leiber, zerbeulte Autos, heulende Sirenen, blutende, schreiende Menschen. Die Selbstmordanschläge islamistischer Extremisten und die Vergeltungsschläge, die dem Einhalt gebieten sollten, sind die Spur Kains und Lamechs in unseren Tagen.
Da ist die uns von der Bergpredigt bekannte Regel: "Aug um Aug, Zahn um Zahn! "(Mt 5,39) noch harmlos. Sie ist sogar eine wesentliche Mäßigung und Kultivierung der Blutrache.
Trotzdem hat Jesus diese Regel der Wiedervergeltung abgelehnt und wollte sie durch eine ganz neue, ungewohnte, unerhörte ersetzen. "Ich aber sage euch: Leistet dem Bösen keinen Widerstand! Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch noch die linke hin! Wer dich vor Gericht bringen und dir den Leibrock nehmen will, lasse ihm auch noch den Mantel" (Mt5, 40).                                                                                                                                      Die Aufforderung Jesu klingt so paradox, dass sie Widerspruch hervorrufen muss oder einfach ratlos macht.
Vom Inhalt her dürfte es dasselbe meinen wie das rätselhafte Wort "sieben und siebzig Mal" vergeben. Um es noch deutlicher zu sagen:
Wie das Böse, wenn es unbedacht und unkontrolliert durchbricht und seinen Lauf nimmt, gigantische Ausmaße annehmen kann, so sieht Jesus auch das Gute, das im Glauben an ihn möglich wird, sich ausbreiten und zu einer alles überragenden Größe werden.
Dem Gebot Jesu, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten, könnte man sinngemäß hinzufügen: Weil ihr es nicht nötig habt, euch auf die Ebene des Hasses und der Rache zu begeben. Wenn ihr so erfüllt seid von Liebe und Dankbarkeit, von Glück, hat der Hass in euren Herzen keinen Platz mehr.
Ihr braucht nicht die Mittel, mit denen eure Feinde handeln, anwenden, einfach deshalb weil sie nicht mehr eurer Art entsprechen.
Man kann sich den heiligen Franziskus nicht vorstellen, wie er wild auf die Moslems einschlägt. Er ist es aber, der keine Angst hat, zum Sultan zu gehen, um dann bei ihm einen tiefen Eindruck zu hinterlassen. Er war ein anderer geworden, anders als die Kreuzfahrer, die glaubten, mit ihrem Tun Gott einen Dienst zu erweisen.
Es bleibt allerdings die Frage: Wer kann das? Wie werden wir zu den Jüngern, die solches tun? Und herrscht nicht bei den Jüngern Jesu selbst so viel Ungelöstes und Unausgetragenes, dass ihnen einfach die Kraft fehlt, einen wesentlichen Einfluss auf die Strömungen der Zeit zu nehmen?
Beginnen wir einmal bei uns selbst. Wie viel an Überlegungen und Nachdenken verbringen wir damit, um dem, der uns verletzt hat, die Schuld aufzurechnen, einfach deshalb, weil uns das erlittene Unrecht wie eine schwere Wunde anhaftet?                                                             Andererseits können wir uns Groll und Vergeltungswünsche nicht einfach ausreißen.
Eine alte Weisheit kann uns da weiterhelfen. Sie lautet: Gefühle werden nicht durch Vernunft und Willen, sondern durch ein stärkeres Gefühl verändert.
Das stärkere Gefühl kommt von der Ecke unseres Gemüts, wo wir wieder froh sind, wo uns die Arbeit leicht von der Hand geht und wo wir gerne auf andere zugehen können.
Um das Gebot Jesu zu erfüllen, gilt es deshalb, uns um die Heilung unseres Herzens zu bemühen, bei uns selbst einzukehren, statt ständig andere verbessern zu wollen.
Deshalb ist es erlaubt und sinnvoll, einmal die Wunden und die Lücken unserer Persönlichkeit anzuschauen.
Dies kann schmervoll sein, ist aber die einzige Möglichkeit, um aus einer verknoteten und verzopften Beziehung herauszukommen.
In dieser Frage sollten wir das, was mit den ersten Jüngern geschehen ist, nicht überspringen. Es geht um das zentrale Thema der frühen Christen, um die Wandlung ihrer Motivationen, ihrer Wertvorstellungen, ihrer Antriebe und Impulse, ihres ganzen Wesens. Man könnte auch sagen: Sie hatten ein völlig neues Lebensgefühl, in dem die alten Mechanismen ihre prägende Kraft verloren hatten. Der neue Zustand wird "wiedergeboren aus Wasser und Geist"(Joh 3,3), "neue Schöpfung"(Gal,6, 25), "Neuheit des Lebens"(Röm 6,4) genannt. Es ist ein neuer Anfang, der auch in jener Sphäre unseres Wesens greift, die uns nicht unmittelbar zugänglich ist, die aber unsere Motivationen bestimmt. Es ist die Ebene des Denkens und Fühlens, auf der das „Verzeihen aus ganzem Herzen" ohne zurückbleibende Reste möglich wird.

Kehren wir noch einmal zu dem rätselhaften Wort „sieben und siebzig Mal" zurück. Wir dürfen an eine Steigerung des Guten denken, welche die Steigerung des Bösen ins Uferlose aufhebt und den Teufelskreis durchbricht. Sie ist nicht Ergebnis einer Belehrung, die einfach hin geglaubt werden muss, sondern kann selbst erfahren werden und ist konkret wirksam. Sie wird möglich, wenn wir uns wie die frühen Christen von der Kraft des Geistes Jesu treffen lassen.