Der Wandlungsweg der Exerzitien

1.Der Wandlungsweg des heiligen Ignatius von Loyola

Die Exerzitien des heiligen Ignatius sind im kirchlichen Raum zu einem festen Begriff geworden. Sie gelten gewöhnlich als Besinnungstage, die dem geistlichen Leben wieder aufhelfen sollen. Jedoch der ursprüngliche Sinn ist mehr als das, tiefer, wesentlicher, umfassender.
Es geht um einen Wandlungsprozess, zu dem die Anleitungen des Heiligen führen  sollen. An seiner Geschichte wird anschaulich, wie die Entwicklung von einem normalen, angepassten bürgerlichen Dasein zu einem außerordentlichen Leben verlaufen kann.
Sein Weg vom Offizier des spanischen Königs zum Mystiker wurde zur Grundlage seiner Exerzitien, die nach seiner Absicht Ähnliches bewirken sollen.
Als er durch seine Verwundung an das Krankenlager gefesselt ist, gibt man ihm verschiedene Literatur. Es sind meist Ritterromane, aber auch Geschichten von Heiligen und von Jesus, die seine Fantasie anregen. Ihm fällt auf, dass er nach der Lektüre der seichten Erzählungen von Helden und Liebesabenteuern nachher genauso gelangweilt und leer ist wie vorher. Ganz anders ist es, wenn er sich die heroischen Taten der Heiligen ausmalt und seine eigenen Fantasien walten lässt. Es ist auch nachher noch ein beglückendes Gefühl vorhanden, eine Begeisterung für das Außerordentliche, von hohen Zielen angezogen zu sein.
Die Vorstellung, es den Heiligen gleichzutun, erfüllte ihn mit Trost und „er war auch froh und zufrieden, wenn er von diesen Gedanken abgelassen hatte“ (1). Ihm geht auf, dass man seine innere Gestimmtheit auch beeinflussen kann. Hier entdeckt er den Keim einer Neuorientierung. Es steigt in ihm etwas auf, das allmählich seine ganze innere Welt erfasst und seine Impulse und Strebungen, seine emotionale Gestimmtheit so nach und nach umpolt.
Auf diese Weise entwickelt er seine geistlichen Übungen, seine „Exerzitien“ (2).

Noch ein anderes Ereignis wurde für ihn wichtig. Im Bericht des Pilgers heißt es, dass er in der Nacht - wir dürfen annehmen im Traum - ganz klar ein Bild unserer Lieben Frau mit dem Jesuskind sah (3).
Das Erlebnis war von einem außerordentlichen, anhaltenden Trost begleitet, von einem Gefühl des Angenommen - und Beglückt seins. Es war von einer solchen spirituellen Tiefe, dass für ihn das sexuelle Empfinden für die folgende Zeit seines Lebens ausgeschlossen blieb. Die Wandlung, die in ihm vorgegangen war, wurde auch von seinem Bruder und den übrigen Bewohnern des Hauses wahrgenommen. Auch sein Aussehen und Auftreten hatte sich verändert.
Eine Erfahrung von solcher Dichte und Erhabenheit ist prägend für die Zukunft eines Menschen. Sie ist das Maß, zu  dem er von jetzt ab in allen Bereichen seines Lebens umgestaltet werden soll. Wer einmal in diesem Ausmaß aus der Quelle geschöpft hat, für den gibt es keine Alternative mehr. Das spirituelle Leben und mit ihm das Neue und Schöpferische kommen von selbst in Fluss. Beten, Meditieren und die Teilnahme an der Liturgie sind keine Pflichterfüllung, sondern ein Wachrufen der Urerfahrung, wobei sich nach und nach Bedürfnisse, Vorstellungen und Gewohnheiten wandeln.
Ignatius hat im weiteren Verlauf seines Umkehrprozesses gezielt an dem Punkt seiner Existenz, wo die Gefühle und Strebungen ihren Sitz haben, - von der Psychologie das „Unbewusste“ genannt - gearbeitet und es darin zur Meisterschaft gebracht. Er hat auf diese Weise seinen Taufprozess vollzogen. Die Worte vom „Sterben mit Christus, begraben und auferweckt mit ihm“ (Röm 6,1) treffen auf seine Geschichte wie angepasst zu.

2.Die Exerzitien als Taufweg

Die Exerzitien des Hl. Ignatius, worin sich sein Weg widerspiegelt, sind auf diesen existentiell wirksamen Vorgang angelegt. Der Prozess von vier Wochen soll den Exerzitanden mit den Grundbedingungen seines Daseins konfrontieren und zuinnerst aufwühlen.

Dazu steht am Anfang die Frage nach dem Sinn des Lebens - das „Fundament“.
Wer sich voll darauf einlässt, ist gezwungen, sich zunächst mit seinem Schatten, den Negativseiten seines Lebens auseinanderzusetzen. In den Exerzitien ist die erste Woche der Betrachtung der Sünde gewidmet. Dann soll der Übende in der zweiten Woche Christus in seinem Wirken kennenlernen und sich in der „Wahl“ bewusst für ihn entscheiden. Schließlich folgt die Betrachtung des Leidens Jesu in der dritten und der Auferstehung in der vierten Woche. Bei alledem geht es darum, in eine Einheit mit Christus zu kommen, also mit ihm leiden, sterben und auferstehen.

Nur regt sich die Frage: Wie ist das heute zu verstehen und zu vermitteln?
Jung bestätigt dem Gründer des Jesuitenordens, dass er, um auf das Unbewusste Einfluss zu nehmen, eine Methode entdeckt hat, die der vom Züricher Psychologen entwickelten „aktiven Imagination“ entspricht. Durch die Vorstellung von inneren Bildern wird das Unbewusste, das heißt jener Teil der Seele, der uns nicht unmittelbar zugänglich ist, angeregt, belebt und verwandelt.
Ignatius legt Wert auf die Vorstellung des Ortes und der Person zum Beispiel Jesus am Ölberg und vor allem auf die entsprechende emotionale Reaktion. Man soll sogar darum beten, in diesem Fall um Schmerz und Tränen, bei der Betrachtung des Auferstandenen um Freude und Jubel. Der Erfolg dieser Übungen war noch zu Lebzeiten des Heiligen gewaltig.
Er liegt gerade darin, dass der Sitz der entscheidenden Motivationen angegangen wird. Sie wurden im gesamten katholischen Bereich als die optimale geistliche Bildungsform übernommen.
Im Laufe der Jahrhunderte haben jedoch die Exerzitien ihren Glanz verloren. Aus der intensiven Auseinandersetzung mit den Grundrichtungen der unbewussten Strebungen wurden Vortragsexerzitien, meist fromme Betrachtungen ohne die entsprechende Dynamik.
Inzwischen sieht man auf breiter Basis ein, dass man die Wirkungen, die Ignatius beabsichtigte, nicht über Vorträge erreichen kann, auch nicht durch wörtliche Übernahme seiner Anleitungen. Der Mensch des sechzehnten Jahrhunderts stand dem Urgrund näher als der moderne, durch die rationale Kultur geprägte. Zudem haben die meisten Priester und Ordensleute eine ganz andere Lebensgeschichte, als Ignatius sie hatte. Die Erziehung in den Internaten, in Ordenshäusern und Priesterseminaren erbrachte eine Abschnürung ihrer Emotionalität, bzw. nur solche junge Leute, die eher gehemmt waren, sind dort eingetreten und geblieben.
Wenn ein derart vorgeprägter Mensch mit all seinen Antrieben und Strebungen auf Gott hin ausgerichtet werden soll, muss er zuerst von seiner Gehemmtheit befreit werden und mit seiner Lebendigkeit in Kontakt kommen. Ignatius hingegen lebte seine Vitalität, genoss manch amouröses Abenteuer; wegen nächtlicher Umtriebe hatte er sogar ein Strafverfahren (4).
Wenn jedoch die Gefühle abgeschnitten sind, kann auch inneres Erleben, das die Betrachtung gestalten soll, nicht erwachen. Die Anleitungen des Ignatius sind eher kontrollierend; besonders das Arbeiten mit Vorsätzen braucht starke Impulse und Fantasietätigkeit. Sind diese nicht vorhanden, wirken Regeln zwanghaft und im ganz wörtlichen Sinn abtötend.
Weiter ist zu bedenken, dass Unternehmungen wie die der Exerzitien eine schon vorhandene seelische Tendenz zur Introversion voraussetzen, ebenso wie die Übungen des strengen Za - Zen.
Voraussetzungen einer Wandlung: Existentielle Betroffenheit und Neuheitserfahrung.

Aus der Bekehrungsgeschichte des Ignatius können wir Bedingungen entnehmen, die ein innerer Aufbruch voraussetzt; denn nie kann er Ergebnis von Vorsätzen sein, es ist vielmehr ein Ereignis, das einem zustößt.
Bei Ignatius ergibt sich infolge einer Verwundung ein Stillstand der äußeren Tätigkeit. Dadurch ist er sich selbst ausgesetzt und wird nicht mehr von außen abgelenkt; alle Gedanken drehen sich nur um die eigene Existenz; ein neuer Raum des Erlebens tut sich für ihn auf. Er befindet sich in einem Alter, wo solche Umbrüche häufiger geschehen.
Der innere Weg beginnt dann, wenn es außen nicht mehr weitergeht. Solange wir mit ungebrochenem Elan ein äußeres Ziel verfolgen, solange uns die Arbeit ausfüllt und die Beziehungen stimmen, besteht kein Anlass, die bisherige Lebenseinstellung zu überprüfen. Erst wenn die Außenaktivität nicht mehr wie bisher läuft, ist die Chance eines Umbruchs gegeben. Erst der Leidensdruck zieht die Aufmerksamkeit auf das eigene Dasein und zwingt dazu, sich existentiellen Fragen zu öffnen.
Deshalb sind Menschen, die weniger dem bürgerlichen Leben angepasst sind und eher auf der Schattenseite stehen, offener für Neues als andere, die nur ihren alltäglichen Trott kennen. Dies ist einer der Gründe, warum Jesus die Armen selig preist (Vgl. Mt 5,1; Lk 6, 20) und von den Zöllnern und Dirnen sagt, daß sie eher in das Reich Gottes kommen (Mt 21, 31)
Wenn Menschen von Unglück, von Krankheit oder vom Verlust eines geliebten Menschen betroffen sind, gilt es zunächst, diese neue Situation zu verarbeiten. Dort beginnt Umkehr, der Weg von außen nach innen.

3.Die Lebenswende

Ignatius war nicht ganz dreißig, als er seine Umkehr vollzog. Es ist das Alter von vielen existentiellen Aufbrüchen, wo sich Endgültiges für einen Menschen anbahnt, wie Hub Oosterhuise sagt. Er führt als Beispiel Blaise Pascal an, dem mit 31 eine mystische Ekstase zuteil wurde, aufgezeichnet im sogenannten Memorial; Albert Schweizer, der in diesem Alter von der Theologie zur Medizin überwechselte und in Zentralafrika ein Urwaldhospital gründete (4).
Auch Jesus war so alt, als er seine Berufungsvision hatte (Lk 3, 23), und man darf annehmen auch Paulus.
Die Jahre um die Dreißig und darüber sind jene Zeit, wo die Prägung durch die eigene Lebensgeschichte, anders ausgedrückt durch das persönliche Unbewusste, ihre zwingende Kraft verliert und den tieferen Schichten der Seele Raum gibt zum wirken.
Jung wählte den Ausdruck „Lebenswende“, und in jüngster Zeit ist das Wort „Midlife - Crisis“ zu hören. Deren Auftreten lässt sich aber nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt festlegen. Es kann Verschiebungen von mehr als 20 Jahren geben. Jeder Mensch ist einmalig und hat seine Zeit des Umbruchs, seinen Kairos. Anzeichen dafür kann zunächst eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Bestehenden sein.
Bei vielen, die alles erreicht haben, was sie für erstrebenswert hielten, die Position im Beruf z.B., die Familie, das Eigenheim, steigt die Frage auf: Was kommt jetzt?
Es kann auch eine Krise in der Ehe sein, wo beide Partner das Empfinden haben: Wir sind soweit voneinander entfernt, dass wir uns ein Zusammenkommen nicht mehr vorstellen können; oder es kommt zu unerklärlichen Zerwürfnissen, obwohl man einander mag. Viele werden unzufrieden im Beruf, fühlen sich überfordert und entdecken, dass ihnen eigentlich etwas ganz anderes läge.
Häufig erfolgt in dieser Situation eine äußere Veränderung, wie der Wechsel des Berufes oder des Lebenspartners. Noch wichtiger wäre, den geistigen Impuls hinter den Problemen aufzudecken; wahrzunehmen, daß eine neue Einstellung zum gesamten Leben hervorkommen will; dass primär nicht eine Neugestaltung der Umgebung ansteht, sondern eine Umkehrung der emotionalen und geistigen Ausrichtung.
Zur Zeit der Lebenswende ist die Ausdehnung der Persönlichkeit nach außen hin am Zielpunkt angekommen, wie die Sonne am Mittag den Zenit erreicht hat und ab diesem Moment im Sinken begriffen ist.
Was jetzt folgen muss ist eine Ausweitung nach innen, d.h. die Suche nach Sinn und geistigen Gehalten. Es melden sich Ansprüche des „religiösen Triebes“ und des Urgewissens.
Jung ist aufgefallen, dass nach Abschluss einer Behandlung bei vielen Patienten die psychische Entwicklung weiterging. Das veranlasste ihn zur Annahme, der analytische Prozess hätte sein Ziel noch nicht erreicht, selbst wenn alle Symptome schon abgeklungen wären. Er gewann die Überzeugung, dass diese Problematik über das Nur - Ärztliche hinausginge und medizinisches Wissen allein ihr nicht gerecht werden könne.
Dieses Ziel - so folgert Jung - ist der noch verborgene, noch nicht in Erscheinung getretene ganze Mensch, welcher zugleich der größere und zukünftiger ist (5).
Wir werden, wie schon bei Rogers, an viele Aussagen des Neuen Testamentes erinnert: an das Gleichnis vom Wachstum (Mk 4, 27f, Eph. 4,15), vom neuen Menschen (Eph. 2,15; 4,24), von der Umformung nach dem Bilde Christi (2 Kor 3,18), den wir als den großen Menschen in uns betrachten können.
Es bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung, dass dieser Zeitpunkt der günstige Augenblick für einen Neuaufbruch im Glauben ist; dass sich das natürliche Streben der Seele nach innen - Jung nennt es Individuation, mit der Bewegung des Glaubens verbinden kann. So war es bei Ignatius, bei Franziskus und bei vielen, die gegen die Zeitströmung eine neue innere Welt entdeckt und nach außen getragen haben.

Im Verlauf eines zehntägigen Selbsterfahrungskurses erlebte ich so etwas wie Tod und Auferstehung. Es waren Tage schwerster Depression und gewaltiger Erschütterungen, welche aber die Gewissheit brachten, am Quell des Lebens zu sein.
Mein erster Gedanke nach diesem Kurs war, nach Spanien zu fahren und die Stätten der Mystiker aufzusuchen, Manresa, Segovia und Avila. Im Kloster auf dem Montserrat las ich Schriften zum Exerzitienbuch, in denen die Kraft der Exerzitien unmittelbar zu spüren war. Mir ging auf, daß ein Selbsterfahrungskurs ein ähnliches Ergebnis bringen kann, nämlich den Menschen für Gott zu öffnen.

4.Kirchliche Prägung als Hindernis

Wir können bei dem großen Meister einsteigen, gerade wenn wir durchaus guten Willen haben, uns aber das Gefühl fehlt. Es beginnt damit, dass wir unser ganz normales Leben überdenken und uns prüfen, welche Gefühle uns begleiten, bestimmen, tragen oder schwächen oder sogar überschwemmen und beherrschen, aber ohne den Druck, sie mit Gewalt verändern zu wollen.
Hier können wir die Anregungen des Heiligen aufgreifen, indem wir uns fragen: Was macht mich froh? Was bereichert mich? Was bringt mich weiter? Was zieht mich im Innersten an?  Es kommt allerdings darauf an, was wir dann wählen.
Es ist ein Unterschied, ob wir jeden Abend uns dem, was uns im Fernsehen vorgesetzt wird, aussetzen oder ob wir uns einer tieferen Erfahrung durch Stille oder anregender Literatur zuwenden. Unsere Stimmung am nächsten Morgen wird anders sein.

Anmerkungen

1) Ignatius von Loyola, Der Bericht des Pilgers, Freiburg 1977, 45
2) Der Psychologe Carl Gustav Jung hat die Exerzitien des Ignatius sehr hoch geschätzt, weil sie eine Methode enthalten, Menschen zu wandeln. Er hat darüber Seminare gehalten.
3) Ignatius, d. Bericht  des Pilgers, 47
4) ebenda 133

Vgl. Huub Oosterhuise, Im Vorübergehen, Wien 1969, 17
Vgl. C. G. Jung, Psychologie und Alchimie, GW Bd 12, 1814.05.97ff