Naechstenliebe, die kritische Herausforderung

Nächstenliebe ist Tat!
Allzu oft hören wir den Aufruf zum Einsatz für die Armen, für die, die keinen Helfer haben. Im Hinblick auf das unübersehbare Elend von Millionen, die am Verhungern und Verdursten sind, ist dies mehr als berechtigt.
In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts machte der kolumbianische Priester Camilo Torres Schlagzeilen. Er war der Priester, der zu den Waffen griff. Er schloss sich der kommunistischen Aufstandsbewegung an und fiel im Kampf. Er gilt als einer der ersten, der in Südamerika den Blick auf die Menschen im Elend lenkte. Hat er sein Leben für die Armen gegeben?
Dazu ein anderer Name, der Achtung verdient:
Schwester Karoline Mayer, die in Chile zur Lichtgestalt wurde, die in ein Elendsviertel ging, dort mit den Armen ihr Leben teilte, politisch Verfolgte aufnahm, bei der Bewaffnete ihre Pistolen ablegten. Daraus wurde ein Werk, das Tausende mit Bildung und Nahrung versorgt. Auffallend ist die Atmosphäre, die sie verbreitet. Wenn sie auf der Straße erscheint, sieht man freundliche Gesichter, fallen ihr Menschen um den Hals, küssen ihre Hand und drücken sie als den Engel aus Deutschland.
Der unsichtbare Schatten
Camilo Torres, aufgewühlt vom maßlosen Elend, ist fasziniert von der marxistischen Vision der klassenlosen Gesellschaft als einem urchristlichen Ideal. Er dachte gar nicht daran, dass hohe Ideale einen mächtigen Schatten haben. Mit Schatten ist gemeint: Die eigenen Ansprüche auf Besitz, Einfluss, Eigennutz sind mit der edlen Absicht nicht aus der Welt, sondern arbeiten im Dunklen weiter. Der Schatten des Expriesters war ganz offen der Kampf um die Macht. Dieser war sehr blutig, immerhin 50 Jahre Bürgerkrieg! Macht bedeutet, seinen Willen, seine eigenen Ideen und Denkweisen anderen aufzwingen. Es muss nicht gleich die große Politik sein. Man darf an die Mutter denken, die zeitlebens nur für die Familie da ist, nie ein eigenes Leben beansprucht, dann aber im Alter von den erwachsenen Kindern ständigen Einsatz fordert, sei es nur Zeit für sie. Gerade bei den edelsten Zielen scheint es überflüssig zu sein, sich selbst und seine Motivation kritisch zu hinterfragen. Bei jeder guten Tat kann auch der geheime Wunsch nach dankbaren Blicken, nach Berühmt werden oder sogar nach Beherrschung anderer dabei sein.
Nächstenliebe ist Atmosphäre.
Ein entscheidendes Kriterium, ob der Schatten bewältigt wird, besteht darin, wie man einander von Mensch zu Mensch im normalen Alltag begegnet, ob auf gleicher Ebene in Freiheit, oder mit der geheimen Absicht, den/die andere/n auf die eigene Seite zu ziehen. „Ich meine es dir nur gut" ist ein häufig gebrauchtes Wort, das ausgeübten Druck verschleiert.
Liebe im tiefsten Sinn ist nicht etwas, das wir selbst machen, ist eher etwas, das mit uns geschieht. Sie ist eine Instanz, die uns ergreift, die einander sympathisch macht, die Vertrauen schafft. Es ist die Atmosphäre, in der man sich versteht, wo man einander guttut! Es ist die Kraft, die auch dann wirkt, wenn der geliebte Mensch, Vater, Mutter, Ehepartner der Betreuung und der Pflege bedürfen.
Hier kommt es darauf an, wie existentiell tief eine Beziehung geht, wie stark die Liebe ist. Es ist der Schatten, der Beziehungen nicht gelingen lässt und die gute Atmosphäre verhindert. Man sucht meist alle Schuld bei den andern, beim Ehepartner/in, bei den Oberen der Kirche und der Politik. Deren Schlechtigkeit aufzudecken, scheint die Lösung zu sein.
In Wirklichkeit hat gerade das, was einem am andern stört, mit der eigenen dunklen Seite zu tun. Man wirft sich gegenseitig dieselben Fehler vor. Hinter der Kritik an der Macht der Höheren steht meist das eigene Machtstreben. Nichts ist nötiger, als seinen Schatten zu erhellen. Darunter fällt alles, was in einem Leben nicht bewältigt ist, Wunden, Leiden, Zorn, nicht gelebtes Leben, nicht erreichte Ziele, und vieles andere, das weiterwirkt.
Dazu bedarf es einer kritischen Selbstreflexion, die Aufmerksamkeit, Zeit, auch Geld und eine/n kompetente/n Begleiter/in erfordert.
Im Grunde geht es darum, sein eigens Herz kennen zu lernen, um die Motive zu reinigen. In der Mitte unseres Wesens ist die Quelle, welche ein absolutes Ja zu sich selbst, zu jedem Menschen und zur Schöpfung hervorbringt.