Braucht Gott ein Opfer?

Der dunkle Aspekt des Opfers

In liturgischen Texten und der Verkündigung sind wir es gewohnt, vom Kreuzesopfer Jesu zu hören. Jesus hat sich stellvertretend für die Sünder Gott, dem Vater geopfert. Paulus erinnert im Brief an die KOrinther an die Substanz seiner Verkündigung: "Christus ist für unsere Sünden gestorben."(1Kor15,3).Dies wird von vieleen kritisch Denkenden nicht mehr so hingenommen. Jesus hat doch einen unendlich gütigen Gott als  die Liebe selbst den Menschen dargestellt. Wozu braucht er dann den grausamen Tod des Sohnes? Kein Vater würde so mit seinem Sohn verfahren. Diese Fragen tauchen vielfach auf.                                                     

Es ist wahr: Der Begriff des Opfers ist schwer belastet. Es wurden zu viele, lebensverneinende Opfer gefordert. Die Hingabe des Lebens für das Vaterland war vor hundert Jahren im Bewusstsein der Deutschen und der übrigen Europäer die große heroische Tat. Das in der Schule gelernte Zitat von Horaz: "Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben" wurde  ganz wörtlich genommen und dann im Weltkrieg grausame Wirklichkeit. Ebenso galt die "Aufopferung" der Mütter für ihre Familie als bewundernswerte Tugend. Heute werden diese hohen Ideale in Frage gestellt. Man weist darauf hin, dass es ohne die Bereitschaft der Selbstaufopferung kaum die beiden Weltkriege gegeben hätte und dass die Hingabe an die Familie oft durch Aufgabe der eigenen Persönlichkeit erkauft worden  sei. Es heißt, dass in der Geschichte fast nur die Frauen die Opfer gewesen seien. Der Hinweis auf die beiden Weltkriege dürfte diese Ansicht in Frage stellen. Es waren immerhin an die vier Millionen Männer, die im ersten Weltkrieg für Deutschland starben, an die sechs Millionen im zweiten. Das Leid der Mütter, die ihre Söhne, das der jungen Frauen, die den geliebten Menschen verloren, darf jedoch genauso wenig vergessen werden. Aber macht es überhaupt Sinn, die Dinge so zu trennen?

Es wurde auf den archaischen Charakter des Opfers hingewiesen. Damit ist einr  moralisches Empfinden aus der Frühzeit der Menschheit gemeint.  Nur mit Schaudern können wir uns die Massenschlachtung und Verbrennung Tausender fetter Lämmer, Widder und Rinder vorstellen. Menschenopfer sind uns unheimlich. Bei den Germanen war es üblich, den Göttern die gefangenen Feinde darzubringen. Bei den Kimbern waren es Priesterinnen, die den Opfern die Kehlen durchschnitten, bei den Inkas wurde das noch zuckende Herz eines jungen Mannes oder einer Jungfrau  einer Statue des Sonnengottes in den Mund gelegt. Wird man den alten Kulturen gerecht, wenn man in derlei Handlungen nur eine maßlose, unmenschliche Verirrung sieht, wie die Spanier das bei den Inkas empfanden? Nach den Erkenntnissen der Völkerkunde geschah durch das Opfer die Erfahrung des Numinosen. Die Anwesenden erschaudern. Sie spüren eine höhere Macht und wie sehr sie  ihr ausgeliefert sind in allen, was sie sind und haben, was man ihr verdankt; konkret waren es die Ernte, der errungene Sieg oder das Licht und die Wärme der Sonne. Es sind die Vorgegebenheiten, welche der Mensch nicht in der Hand hat und nicht machen kann. Wahrscheinlich löste nichts anderes mehr ein ergreifendes Gefühl der Hingabe aus als die rituelle Tötung eines Tieres oder sogar eines Menschen.Letzter Sinn des Opfers war also die Erfahrung der Abhängigkeit und der Hingabe an die Gottheit; gerade die wertvollsten und edelsten Dinge - l "ein fehlerloses Lamm"(vgl. Ex 12,5) - sollten diese innere Gesinnung zum Ausdruck bringen.Vieles spricht dafür, dass die Kraft der Religionen im Erleben  des Numinosen beim Vollzug der Opfer bestand. Die Frage ist, wie man heute bei aller berechtigten Entmythologisierung und bei aller Kritik an archaischen Resten das ursprünglich Gemeinte und Erfahrene retten und auf eine, dem Stand unseres Bewusstseins angemessene Weise vollziehen kann.

Braucht Gott Sühne für die Sünden der Menschen?

Das Opfer Christi am Kreuz gilt in der Tradition der Kirche als Grund der Erlösung. "Er hat für die Schuld Adams den Schuldschein bezahlt" wird in der Osternacht gesungen. Dass der Gott, den Jesus seinen Vater nennt und dessen überströmende Güte Inhalt seines Lebens ist, zur Erlösung der Welt den grausamen Tod seines Sohnes braucht, erscheint heute vielen absurd.Wir sollten recht vorsichtig sein, wissen zu wollen, was Gott braucht und was er nicht braucht. Sicher ist, dass wir Menschen nach Sühne verlangen. Es gab vor einigen Jahren harte Diskussionen um den Sinn der Strafe: Resozialisierung sei der einzig vernünftige Zweck und Sühne sei eben ein Rest archaischen Denkens, eine Ideologie des Irrationalen.. Die heißen Debatten kühlten sehr bald ab, als deutlich wurde, dass man unter diesem Aspekt kaum einen  Nazi-Täter zur Rechenschaft hätte ziehen können. Die meisten waren ja " sozialisiert", saßen zum Teil in besten Positionen. Allein der Gedanke an die 50 000 Todesurteile der Nazi-Justiz, von denen minimal wenige  gesühnt wurden, lässt heute noch die Seele vor Zorn kochen. Wir Menschen brauchen Genugtuung, zumindest die Reue der Schuldigen. Selbst die war nicht vorhanden. Die berechtigte Erregung darüber lässt auf einen zutiefst liegenden Sinn für moralischen Ausgleich schließen.Man könnte jetzt von einer Projektion dieses Bedürfnisses auf Gott sprechen. So wie wir Menschen - denkt man - brauche auch Gott die Sühne. Damit ist aber auch noch nicht alles erklärt. Eher ist zu vermuten, dass der Vorstellung von der Sühne Gott gegenüber die Erfahrung der absoluten Größe Gottes und der eigenen Geringheit zugrunde liegt, ausgedrückt in dem Bekenntnis "Herr, ich bin nicht würdig." Es ist etwas  anderes als von außen eingeredete und übernommene Schuldgefühle. Im Hinblick auf die Ausmaße des Weltalls dürfte uns das Gefühl der Winzigkeit nicht allzu fremd sein. Der heilige Franziskus konnte zum Beispiel nicht damit aufhören, sich als den Geringsten zu bezeichnen; nicht aus falscher Bescheidenheit, er wusste sehr wohl, was er sagte. Dieser Mann, dessen Glaubwürdigkeit über alles erhaben ist, hat wie kaum ein anderer den Abstand zwischen sich und Gott gespürt und auch schmerzlich erlitten. Sein Gebet: "Wer bist du, o Gott und wer bin ich, armer Wurm," war nicht gewaltsame Selbstverdemütigung, sondern ein Versuch, sein Erleben in Worte zu fassen. Damit war das Empfinden verbunden, jenem Wesen etwas zu schulden, was man selbst nie leisten kann.

Lebendige oder tote Opfer?

Das Opfer hat so lange einen dunklen Charakter, als der Mensch von einem Gott ausgeht, der außerhalb seiner selbst ist. Wenn ein solcher Gott Opfer fordert, dann wird er als Despot empfunden, der anderen seinen Willen aufzwingt. Solche Opfer erscheinen hart und grausam und rauben den Menschen die Freiheit, das Glück oder sogar das Leben. Anders ist es, wenn Gott erfahren wird als das ganz Eigene. Nichts ist befreiender und beglückender als in der Begegnung mit einem geliebten Menschen als der/die bestätigt zu werden, der/ die ich bin. Dafür ist man bereit, alles zu geben, das Wertvollste, das man hat. Zeit, Geld und Anstrengungen, weil der Mensch, der einem nahe ist, als etwas vom ganz Eigenen wahrgenommen wird. Echte Gottesbegegnung übertrifft jedoch noch diese menschliche Erfahrung. Alles spricht dafür, dass Jesus einen Gott des Innen, der inneren Erfahrung verkündet; einen, der ihm selbst und jedem Glaubenden zuinnerst nahe ist. Jesus spricht vom" Vater" und  meint damit Gott. als sein wahres, größeres Selbst, als sein eigentliches Wesen. (Nach alter christlicher Auffassung ist ja der Sohn mit dem Vater "Wesens-" gleich). Das Verhältnis Jesu zu Gott dürfen wir auch auf die Glaubenden übertragen. Sie sind ja Söhne und Töchter Gottes. Die Hingabe an Gott bedeutet demnach die tiefere Wahrheit des eigenen Lebens: das Einssein mit sich, das Zuhause sein bei sich, die innere Gewissheit, richtig zu sein als der, als die ich bin. Es ist die Übereinstimmung mit dem "Wesentlichen" in uns und gleichbedeutend mit einem größeren Umfang der Persönlichkeit. Deshalb und nur dann ist die Botschaft Jesu befreiend. Im Neuen Testament stehen dafür die Begriffe: "Neue Schöpfung" (2Kor, 17), "wiedergeboren aus Wasser und Geist" (Joh 3,5), "der neue Mensch" (Eph.4, 24).

Ebenso finden wir in ungezählten Gebeten, Dichtungen und Berichten der Mystiker diesen neuen Zustand ausgedrückt. Um ein Beispiel zu nennen: Der Sonnengesang des heiligen Franziskus gibt einen Menschen wieder, der sich selbst, der Gott und den Geschöpfen zugleich nahe ist und der über den Emotionen, sogar über Leid und Tod steht. Sonst wäre der Heilige nicht zum spontanen Lob gestimmt und könnte nicht den Feinden vergeben. Seine für uns unvorstellbare, nicht nachvollziehbare Härte gegen sich selbst, die Aufgabe seines Besitzes, sein Fasten und der Drang, ein Niemand und ein Nichts in der öffentlichen Achtung zu sein, wären purer Masochismus, wenn sie nicht aus der Fülle des inneren Erlebens kämen. Franziskus hatte erfahren, dass gerade die Weggabe allen Besitzes das Glück der mystischen Nähe Gottes immer neu hervorbringt. Deshalb war ihm die Armut so heilig und nur deshalb wollte er sie um keinen Preis antasten lassen. Er bezeichnete sie als den direkten und sicheren Weg zu Gott. Wem der Zugang zu einer vertieften spirituellen Erfahrung verschlossen ist, der wird darin allerdings nur überflüssige Selbstquälerei sehen, er kommt vielleicht zu dem Ergebnis, dass man statt zu fasten doch besser Almosen geben sollte. Wer jedoch schon einmal gefastet hat, wird bestätigen, dass der Entzug von Speisen über einige Tage nicht nur der Gesundheit zugutekommt, sondern vor allem die Quelle des Religiösen öffnet. Gleichzeitig ist es eine Begegnung mit sich selbst in der Tiefe der unbewussten Seele, mit jenem Punkt, wo wir uns zuinnerst nahe sind, wo wir Klarheit über uns selbst gewinnen und über anstehende Probleme. Deshalb ging in früheren Zeiten wichtigen Entscheidungen ein Fasten voraus(Vgl.Apg.14.22).

Der Niedergang der Orden heute dürfte seine Ursache darin haben, dass der Verzicht durch die drei Gelübde zu wenig oder gar nicht als Entscheidung aus dem ganz Eigenen geschieht. Die Entdeckung des je Eigenen vollzog sich, wenn überhaupt, in der Lebensgeschichte vieler Ordensmitglieder erst Jahre nach ihrem Eintritt und führte dann häufig deshalb zum Verlassen der Gemeinschaft, weil dieses je Eigene in ihr keinen Platz hatte. Um noch einmal das Gemeinte auf den Punkt zu bringen: Opfer, die von außen, von einer fremden Macht auferlegt werden, ob sie nun Gott, Schicksal, Staat oder Gesellschaft heißt, werden als lebensfeindlich empfunden und können in der Tat grausam und unmenschlich sein. Dagegen kann der Verzicht, der aus der Fülle des Innersten kommt,  oder auch ein schweres Schicksal, wenn man von innen her dazu Ja sagen kann, dazu führen, dass man als  eigene Persönlichkeit daran wächst. Ausgelöst wird dieses von einer höheren Instanz in uns selbst, die im Unterschied zum Ich das „Selbst" genannt wird und zugleich die Ganzheit und die höhere, dichtere  Form der Existenz umfasst. Sie ist zugleich die Stätte der Gottesbegennung. Ein "Opfer" in diesem Sinn bedeutet: Das kleine Ich, das absichtlich denkt, will und handelt, wird dem großen, wahren  Selbst geopfert. Die ist nicht lebensfremd und feindlich, sondern erschließt erst das volle Leben.

Kann Leiden erlösen

Es ist immer noch die Frage offen, warum uns Jesus durch sein Leiden erlöst. Kann überhaupt  leiden erlösen?                                                                                                                                          Die Spur des ganz Eigenen kann uns auch  in dieser Frage weiterbringen:  Wer im Bereich der Psychotherapie und der beratenden Seelsorge tätig ist, wird folgende Tatsache bestätigen: Erst wenn der leidende, verzweifelte, trauernde Mensch an das Gefühl seines tiefliegenden Schmerzes herankommt und ihn in mitfühlender Nähe des Begleiters ausspricht und durchleidet, tritt eine Wende im Befinden ein. Erst das Durchleiden des Schmerzes bringt ihn in die Tiefe, in die Mitte seines Wesens. Er wird ruhiger, gefaßter, empfindet Trost und Frieden und kann sich auch mit einem schweres Schicksal, dem Tod eines geliebten Menschen, einer Trennung oder einer Krankheit aussöhnen. Das bewusste Zulassen des Schmerzes, der verborgen, abgeschirmt die Depression, die Unzufriedenheit und Zerrissenheit ständig nährt, wirkt befreiend. Das Hineingehen in den Schmerz ist die große existentielle Herausforderung, aber auch der große existentielle Gewinn, nämlich Anstoß für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit. ,,Aus dem Leiden der Seele geht jede geistige Schöpfung hervor," sagt Carl Gustav Jung, einer der Begründer der modernen Psychotherapie auf dem Hintergrund seiner langjährigen Praxis und der eigenen Lebensgeschichte. Ein Seelsorger berichtet von einer Frau im Altenheim, deren Knochengerüst zerbrochen war und die mit unsäglichen Schmerzen viele Monate unbeweglich im Bett lag. In dieser Zeit sei in ihrem sonst ruhelosen Leben Stille eingekehrt, nach ihren eigenen Worten sei sie nie in ihrem Leben so glücklich gewesen wie in der Zeit der Schmerzen. In der Stille reifte sie zu immer größerer Güte und Dankbarkeit. Die Schwestern hätten sie als die dankbarste Bewohnerin des Altenheimes gesehen. Leiden kann läutern. Es ist auch wahr, dass alles Tröstende und Wertvolle in der Literatur durch Leiden des Schriftstellers erkauft wurde.

Ein Missverständnis in der Nachfolge Jesu besteht darin, dass man, um ihm ähnlich zu werden, das Leiden absichtlich suchen müsste. Beim therapeutischen Gespräch geht es darum, der Wahrheit, die bisher aus Angst vor Schmerz vermieden wurde, ins Auge zu schauen. Dies bringt den Fortschritt und den heilenden Effekt. Wir müssen uns das Leben nicht noch schwerer machen, als es schon ist. Die Nachfolge Jesu beginnt mit der Sensibilität und dem Einsatz für die eigene Echtheit. Und das kann  hart werden. Aber es gibt das Gefühl der Gewissheit, der inneren Stimmigkeit, Lebendigkeit und Kraft. Jesus hat im Auftrag des Vaters nicht absichtlich, masochistisch das Leiden gewählt, sondern er ist mit den letzten Fasern seiner Existenz zur Wahrheit seines Wesens gestanden. und dies nicht nur in den geheimen Winkeln auf den Bergen Galiläas, sondern in der Öffentlichkeit in Jerusalem, vor den Vertretern seines Volkes und vor der Besatzungsmacht. Das Opfer, das der Vater fordert und Jesus vollbringt, besteht darin, dass er sich dem  Willen des Vaters, das heißt seinem ureigensten Wesen hingibt. Damit wird er als Mensch   zu  werden zu seinem wahren Wesen gewandelt.. Bei Johannes heißt es, dass er zum Vater hinübergeht (vgl. Joh 13, 1).

Kann eigenes Leiden anderen zugutekommen?

Ein hilfreicher und verständnisvoller Begleiter kann nur sein, wer selbst schmerzvolle Prozesse durchgestanden hat: Nur er kann eine Atmosphäre schaffen, in der bedrohende und überwältigende Erlebnisse aufgefangen werden . Psychotherapie greift nicht, wenn man sie als angelernte Technik versteht. Jeder Therapeut, Erzieher und Seelsorger ist sein eigenes Instrument. Was er selbst in seiner Lebensgeschichte zu seiner eigenen Reifung durch gelitten hat, kommt jenen zugute, mit denen er zu tun hat. Erst der "verwundete Heiler" kann wirksam werden für die Leidenden. Allerdings ist dieses Annehmen des eigenen Leids etwas anderes als wenn man sich  absichtlich für andere Leid zufügen möchtel. Zunächst muss ich mit meinem eigenen Schicksal fertig werden, ohne schon "großmütig" an andere zu denken. Wenn ich aber durch bin, wird dies von selbst für andere fruchtbar. Die eigene Leidensgeschichte kann, wenn sie bewältigt ist, zum Kapital werden, aus dem andere schöpfen können. Dies gilt für jeden Menschen, ganz gleich in welchem Beruf und in welcher familiären Situation er steht. Er vermindert die Zahl der verbitterten und bösen Menschen, die alles und jeden anklagen, trägt zu einer Atmosphäre bei, in der Menschen Vertrauen finden und Mut und Hoffnung schöpfen.

Übertragen wir nun das Gesagte auf die Erlösung durch das Todesleiden Jesu. Im Galaterbrief bekennt Paulus seinen Glauben an den Sohn Gottes als den, der ihn geliebt und sich für ihn hingegeben hat (vgl. Gal 2,20). Voraus geht die Aussage, dass nicht mehr er, sondern Christus in ihm lebt. Das bedeutet: Paulus ist in einem Denk- und Erlebnisrahmen, der dem des Auferstandenen gleichgesetzt wird. Es ist ein Zustand, in dem die Angst vor Gott und den Menschen, vor Tod und Sinnlosigkeit überwunden ist. Sein Leben ist so dicht und erfüllt, dass ihm alles andere als Mist erscheint (vgl. Phil.3, 8). Zenmeister würden sagen, er habe kensho, die Wesensschau. Das neue Dasein verdankt er Christus, in dessen Erlebnisraum er eingetreten ist. Paulus sieht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Leiden Jesu und seiner neuen Existenzweise. Jesus hat  mit seiner Hingabe diesen Erlebnisraum für ihn geöffnet vergleichbar, wenn ein Seelsorger oder Therapeut auf Grund seiner Lebens- und Leidensgeschichtegeschichte einem Menschen in Verzweiflung einen Raum der Hoffnung erschließt.

Die Rede von der Erlösung durch den Tod Jesu dürfen wir deshalb so verstehen: Weil Jesus durch Leid und Tod auf die andere Seite der Wirklichkeit gegangen ist, weil er eins geworden ist mit Gott, dem letzten Urgrund, hat er die Macht, alle Menschen zu retten. Die Kraft kommt aus dem Prozess der Hingabe und des Leidens. Er ist an dem Punkt, der allen Menschen in der Tiefe ihrer Existenz gemeinsam ist. Deshalb löst Christus auch bei allen, die an diesem Punkt angeschlossen sind, eine gegenseitige Anziehung aus. Der geläufige Ausdruck dafür im Neuen Testament ist Liebe, ein Wort, das im allgemeinen Verständnis eher als Aufforderung zum sozialen Handeln denn als spontane Äußerung von Nähe verstanden wird. Der auferstandene und erhöhte Herr ist der "Therapeut", der Heiland, der selbst das Leid durchgestanden hat und deshalb fähig ist, andere zu heilen.

Der archimedische Punkt des Kreuzes

Noch einmal: Hinter den Aussagen von der Erlösung durch das Kreuz standen ursprünglich konkrete Erfahrungen, nicht theologische Spekulationen. Wenn Franziskus spontan betet: "Wir beten dich an, Herr Jesus Christus und preisen dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst", dann tut er es nicht, weil es in den Ordensgebeten vorgeschrieben wäre, sondern aus innerem Drang, aus Dankbarkeit für das Glück, das er in der Begegnung mit Christus am Kreuz gespürt hat.

In diesem Sinn bekommt das Wort Jesu vom Kreuz und der Nachfolge einen anderen Charakter als den der Lebensverneinung. Der Spruch "Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nicht nachfolgt, ist meiner nicht wert." (Mt 10,32) wird eher annehmbar. Das Kreuz bewusst bejahen bedeutet demnach die Wandlung an den Wurzeln der Existenz erfahren. Damit ist der Anschluss an jenen Punkt in uns gemeint, der als die transzendente Mitte hinter unserem empirischen Ich liegt und symbolisch im Mittelpunkt des Kreuzes dargestellt ist. Man könnte ihn auch den archimedischen Punkt nennen (nach dem griechischen Philosophen Archimedes, der sagte: "Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln"). Es ist der Schnittpunkt der Gegensätze, wo deren zerstörende Gewalt aufgehoben wird. Wer seine eigene Lebensgeschichte mit allen Dunkelheiten, "sein Kreuz", bewusst annimmt, begibt sich auf eine Ebene, wo die alten Gegensätze ihre Bedeutung verlieren.

Ohne Opferung  keine Wandlung, ohne Wandlung keine Communio

Nach alter katholischer Lehre ist die Eucharistie, die Darstellung des Kreuzesopfers Christi. Deshalb war das Wort "Messopfer" gebräuchlich. Man sprach früher von Opferung, Wandlung und Kommunion als den drei Hauptteilen der Messe. Heute scheint dieses Vokabular nicht mehr brauchbar zu sein. Geht man jedoch von einer Sicht des Gottes des Innen aus, gewinnt die veraltete Diktion völlig neue Bedeutung. Höhepunkt der Messe ist die Wandlung, nach scholastischer Lehre die sogenannte Transsubstantiation, ein Begriff, der Missverständnisse und Ablehnung geradezu provozieren muss, wenn man an den äußeren, eucharistischen Gaben fixiert ist. Letzter und tiefster Sinn der heiligen Handlung kann nicht eine Art Zauberspruch sein, durch den neue Substanzen hergestellt werden, sondern die Wandlung der Anwesenden. Deshalb hat der Begriff der Wesensverwandlung nach wie vor zentrale Bedeutung. Erst durch die Wandlung der einzelnen ist eine tiefere Verbindung auf einem geistigen Erlebnisgrund, eine Nähe in Freiheit und gegenseitiger Achtung, eine echte Communio möglich. Voraussetzung ist allerdings, dass die Einstellungen aufgegeben werden, die diesem Ziel entgegenstehen. Das heißt es geht nicht ohne Opferung, aber nicht von äußeren Gaben, sondern von verkehrten Grundhaltungen. Ausgedrückt in der Sprache der neuen Religiosität braucht es die Aufgabe des Ego. Für eine neue Menschlichkeit, für Zusammenleben in Würde und Solidarität ist nach wie vor Selbstverleugnung gefordert. Es ist aber ein Unterschied, ob wir einer äußeren Autorität, einem Stimmungshoch der Gesellschaft, einem wohlgemeinten Rat folgen oder ob wir auf die Impulse des Inneren achten, unseres wahren Selbst, des Gewissens, das uns zur menschlichen und religiösen Reife führen will. Bei vielen Menschen lässt sich sogar ein eigener Trieb zur Wahrheit feststellen, der sie zu leidenschaftlicher Suche, zum eigenen Weg und zum Widerstand trieb.

"Was müssen wir opfern?"

Als Erstes: das Recht haben!!

Die Spaltungen im Raum des Christentums sind zum größten Teil Ergebnisse von Streitereien, die wir im Nachhinein als Missverständnisse sehen. Die feindlichen Parteien wollten einander nicht verstehen, sondern mit Argumenten niederringen. Man glaubte, allein die Wahrheit zu besitzen, und war doch Opfer der eigenen Emotionen und Ängste, die den Blick für die Wahrheit verzerren. Es gilt im Sinne Erich Fromms vom Modus des Habens in den des Seins zu kommen: ,,Ich will nicht recht- haben, ich will recht sein!" Mit dieser Einstellung stünde die Wahrheit im Ziel allen Bemühens und nicht die eigene Position. Wer so denkt, wird sich von einer anderen theologischen Richtung, von einer anderen Weltanschauung, und von einer anderen Religion anregen und bereichern lassen, anstatt verbissen die Gegenseite widerlegen zu wollen. Im Hinblick auf eine zerstrittene Kirche wäre dies ein äußerst Heil bringendes Opfer. Der entscheidende Fortschritt geschieht dann, wenn eine Seite bereit ist, die eigenen Emotionen und Befindlichkeiten wahrzunehmen, zu reflektieren und zu hinterfragen. Es ist tatsächlich kein Leichtes, die leidenschaftliche Auseinandersetzung zu unterbrechen, an sich selbst zu arbeiten und den Drang zu opfern, seinen Zorn über (vor Tausend oder Fünfhundert Jahren oder heute) geschehenes Unrecht hinauszuschleudern. Man sollte nicht vergessen, dass es unreflektierte Emotionen waren, oft die Begeisterung im guten Glauben, die schreckliches Unheil verursachten. Zorn kann zum Handeln bewegen, aber er allein macht noch nichts besser, weil er der Wirklichkeit nicht gerecht wird.

Als Zweites unsere "Lieblings"-Feindbilder

Für die einen sind es die Asylanten, die Russlanddeutschen, alle Ausländer, die, wie man meint, auf unsere Kosten leben. Wer etwas auf seine staatsbürgerliche Bildung und Moral hält, für den sind solche Feindbilder allerdings verpönt. Gesellschaftsfähig ist eher schon das Feindbild Kirche, die Kirchenleitung, der Vatikan. Es wäre die Empörung nicht auszudenken, würde man bei manchen Artikeln statt Christentum und Kirche Juden einsetzen.

Als Drittes: Die Schuld der andern

Das dritte Opfer ist der Verzicht, die Verantwortung für das Unheil, das uns trifft, anderen in die Schuhe zu schieben, seien es die Eltern, die Schule, die Gesellschaft der/die Lebenspartner/in oder die Kirche speiell die Bischöfe.. Es gehört fast zum guten Ton, alle Schlechtigkeit und Verkehrtheit, mit der man selbst nicht fertig wird, den Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, anzulasten. Die Tiefenpsychologie spricht in diesem Zusammenhang von der Projektion des Schattens und davon, dass erst die Annahme des eigenen Schattens eine Wandlung ermöglicht. Die Einsicht, dass ich, um die Welt zu verbessern, bei mir selbst beginnen muss, ist der entscheidende Wendepunkt im Leben des einzelnen und auch der Gesellschaft.Wer Ordnung und Beruhigung seiner Emotionen gefunden hat, von dem geht schöpferisches Tun zu Frieden und Versöhnung aus.

Als Viertes, die Diktatur der Vernunft

gilt es, die Meinung aufzugeben, dass unsere durch die moderne Bildung geprägte Vernunft die letzte und einzige Instanz der Erkenntnis ist, ebenso die damit verbundene Gewohnheit, alles von außen und oben herab beurteilen zu wollen. Dazu gehören auch die Vorstellung von absoluter Freiheit, welche jede Bindung verhindert, und die Illusion von einem Leben, das die dunklen Seiten wie Leid, Trennung, Krankheit, Behinderung, Abschied, Tod nicht kennt. Es gibt Wirklichkeiten, die nicht im Rahmen der reinen Vernunft erfasst werden und die diesen Rahmen überschreiten, zum Beispiel die Liebe. Es gibt Dinge, die wir nicht begreifen, die aber uns ergreifen und auch ein leiderfülltes Leben Sinn-voll machen.

Die Opfer der Gewalt

Weil das Thema ,,Opfer" mit Unrecht und Gewalt verbunden ist, scheint es nicht mehr in eine erhebende religiöse Feier zu passen. Nun sind Unrecht und Gewalt, politische Morde, Verfolgungen aus religiösen, weltanschaulichen und rassistischen Gründen in unserer Zeit grausame Wirklichkeit.

Es gibt zwar ein institutionalisiertes Gedenken bei staatlichen Feiern, die trotz großer Worte oft eher als Pflichtübung zelebriert werden, es gibt den lauten Protest, es gibt ein Gedenken, das Erbitterung hinterlässt; es gibt aber auch ein Erinnern, das sich durchaus aufwühlen lässt von der Tragödie eines geschundenen Menschenlebens, das aber bei dieser Emotion nicht stehen bleibt.

Es ist die nicht einfach zu erringende Haltung des Glaubens, die sich in den Worten der Widerstandskämpferin  Sophie Scholl kurz vor ihrer Hinrichtung ausdrückt: "Ich wusste nicht, dass sterben so leicht ist." Sie bezeugt, dass es eine Ebene gibt, auf der nicht nur die Angst vor dem Tod, sondern auch die Emotion überwunden ist. Gefühle der ohnmächtigen Wut und der Rache haben keinen Platz mehr; sie sind überflüssig geworden. Was hindert zu sagen, dass diese junge Frau vor ihrem Tod in den Erlebnisraum des gekreuzigten und auferstandenen Christus eingetreten ist? Den Schrecken und den Trost eines solchen Schicksals nachzuvollziehen ist der eigentliche Inhalt der Feier des Todes und der Auferstehung Jesu. Deshalb war es seit den Ursprüngen des Christentums Brauch, über dem Grab der Märtyrer die Eucharistie zu feiern. Der Glaube sagte den Christen, dass das Opfer ihres Lebens nicht sinnlose Vernichtung war, sondern Kraft hat, die Angst und den Hass zu überwinden. Beim Wort ,,Opfer" muss uns nicht Abscheu und Schrecken überwältigen; es ist unsere Entscheidung, ob wir den inneren Weg einer Sophie Scholl nachvollziehen und zu der Freiheit und Leichtigkeit gelangen, die sie vor ihrer Hinrichtung beseelte. Wem dies gelingt, der/die hat etwas verstanden vom Geist der ersten Christen, von ihrer Freude und Dankbarkeit, die das Gedächtnis an den gewaltsamen Tod ihres Stifters eucharistia - Danksagung - nannten. Genau diese Stimmung war es, die sich einst in den alten Hochgebeten mit dem Begriff "Opfer" verband.

Alle Gründe scheinen zunächst dafür zu sprechen, archaische Reste endgültig aus dem religiösen Vokabular zu streichen. Wir sollten aber genau darauf achten, was wir da wegwerfen. Gerade Begriffe aus der ältesten Zeit der Menschheitsgeschichte bewegen den Grund der Seele und es lässt sich nicht leugnen, dass die Mythen bei aller Aufklärung in unserer Zeit einen gewaltigen Siegeszug angetreten haben. Entscheidend  ist, welchen Inhalt wir ihnen geben.