• 14.September 2024
Zum Fest Kreuzerhöhung
Das Kreuz ist eine Herausforderung. Vor zwei Jahren erregte das Urteil des Bundesgerichtshofes über die Anwesenheit von Kreuzen in den Schulen großes Aufsehen in der Öffentlichkeit, sogar im Ausland. Es sind bis heute Stimmen zu hören, die in diesem Symbol die lebensfeindliche und depressive Seite des Christentums erkennen wollen. Es ist in der Tat wahr, daß es die Einstellung gab und immer noch gibt, daß echter Lebensfreude mißtraut wird und daß man sich auf die Worte Jesu vom Sichselbstverleugnen und vom Kreuztragen (Vgl. Markus 8, 34) beruft, um sich selbst und vor allem andere unter Druck zu setzen. Das Kreuz, noch mehr der Gekreuzigte wurde zum Anlaß, sich selbst und das Leben falsch zu verstehen.
Nicht nur christentumfeindliche Personen reiben sich an dem Satz: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat." (Johannes 3, 16).
Es geht einfach gegen jedes menschliche Empfinden, daß ein Vater seinen Sohn auf solch barbarische Weise umkommen läßt, um damit seine Pläne - seien sie noch so edel - zu verwirklichen. Die Verwirrung wird noch größer, wenn man in demselben Kapitel bei Johannes einige Zeilen weiter lesen kann: „Der Vater liebte seinen Sohn und alles legte er in seine Hand." (Johannes 3, 35). Kritisch könnte man nun fragen: Wen liebte nun der Vater mehr, die Welt oder seinen Sohn? Eines ist sicher: mit der Logik des Alltags kommen wir hier nicht weiter. Wir sollten zweierlei berücksichtigen: es handelt sich um Texte, in denen sich tiefe religiöse Erfahrungen niedergeschlagen haben. Ihr Inhalt entzieht sich einem Rahmen des Verstehens, der vom bloßen Intellekt bestimmt ist. Wir sollten gegenüber einem christlichen Dokument des Glaubens dieselbe Einstellung der Achtung aufbringen, die C. G. Jung gegenüber dem Tibetanischen Totenbuch fordert. Der Psychologe - so Jung - sollte sich bewußt sein, daß ein heiliger Text wie dieser einen unschätzbaren religiösen und philosophischen Wert darstellt, der nicht durch profane Hände entweiht werden sollte (1). Es gibt nicht nur ein Verstehen durch die Vernunft sondern durch das Leben! Gewiß ein brauchbarer Ratschlag im Umgang mit den Schöpfungen östlicher Weisheit aber auch mit denen der christlichen Religion.
Wir sollten sogar das Unverstandene und Ärgerniserregende der christlichen Glaubenszeugnisse wie ein buddhistisches Koan betrachten, jenes durch den Verstand nicht zu lösende Rätsel, das der Zenmeister seinem Schüler aufgibt. Wenn dieser z.B. fragt: „Hat der Hund die Buddhanatur?" sagt der Meister: Wu oder Mu, was soviel wie Nichts bedeutet. Nach den Maßstäben der Logik ein Unsinn, jedoch ergibt sich die Lösung über die Praxis des Meditierens. Das heißt, wenn der Schüler durch jahrelanges Üben in den Zustand der Erleuchtung kommt, wird ihm aufgehen, wie nahe ihm jedes Geschöpf z.B. ein Hund ist. Denken wir im christlichen Raum an jene Geschichte, wo der hl. Franziskus dem Wolf von Gubbio begegnet. Es trifft zu, daß hier ein Erleuchteter das Gute - die Gottesnatur oder die Buddhaschaft - selbst in einem Tier zu wecken vermag.
Wenden wir das Gesagte auf das Thema vom Kreuz und Kreuztragen an, heißt das: nur das gelebte Leben kann uns jenes Symbol, das soviel Widerstand hervorruft, öffnen. Dazu brauchen wir Zeit, Jahre oft Jahrzehnte.
Zunächst einige Anmerkungen zum Thema des Opfertodes Jesu. Kann es sein, daß Gott, der Vater, der die Liebe selbst ist, die Grausamkeit an seinem Sohn gewollt hat? Die ersten Christen und Jesus selbst sehen den Kreuzestod in einer Reihe mit der Verfolgung der Propheten der jüdischen Geschichte, die als unmittelbar von Gott Berührte von keiner menschlichen Institution sondern unmittelbar von ihm ihren Auftrag erhielten.
Weil „Gott anders ist" (2), waren auch sie radikal anders, standen sie gegen die Meinung der Zeit. Weil sie die Wahrheit darstellten in dem, was sie sagten und in dem, wie sie waren, paßten sie in kein Klischee, nicht einmal in das eines Gottesmannes und religiösen Führers. (Vgl. Amos 7, 12 - 14).
Als solche wurden sie nicht anerkannt und nicht gehört und erlitten ein schweres Schicksal. Auf diesem Hintergrund ist es berechtigt zu sagen, daß Jesus deswegen sterben mußte, weil er voll und ganz zu dem stand, was die Wahrheit seines Lebens war. Hierin erfüllte er den Willen Gottes, welcher mit Verwirklichung seines Wesens Hand in Hand ging. Der grausame Tod war die Folge dessen, daß Jesus das Menschsein mit all seinen Gegensätzlichkeiten voll und ganz ausgetragen hat.
Das Kreuz: Schnittpunkt der Gegensätze
Das Kreuz stellt den Schnittpunkt der Linien dar, die menschliche Existenz ausmachen und in die sich Jesus hineingestellt hat. Es geht um die vertikale Ebene, wo nur Mensch und Gott wesentlich sind, und um eine horizontale, welche das Verständnis von Mensch zu Mensch und dessen Einbürgerung in diese Welt meint. Man könnte sich sogar vorstellen, Jesus hätte als Einsiedler irgendwo in Galiläa mit seinem Gott und mit ein paar Schülern in Frieden gelebt. Wahrscheinlich hätte ihm niemand etwas getan. Aber daß er sein Volk für die Herrschaft Gottes öffnen wollte, daß er mit seiner Überzeugung an die Öffentlichkeit trat, daß er gerade Jerusalem aufsuchte und sich der Führung des Volkes stellte, das hat ihn in die Mitte aller damals möglichen Spannungen gebracht und ihm das Leben gekostet.
Sein Kreuz auf sich nehmen heißt: der Wahrheit ins Auge schauen.
Um noch einmal Mißverständnisse abzuwehren: Sein Kreuz auf sich nehmen kann nicht heißen immer das Schwerere wählen, nur an den dunklen Seiten des Lebens Geschmack finden, sich immer neue noch drückendere Lasten aufladen, sondern der Wahrheit ins Auge schauen, anders gesagt: den Sinn für Wahrheit entwickeln. Die bedeutet, daß wir nicht vor den Problemen unseres Lebens davonlaufen, indem wir in ständige Ablenkung und oberflächliche Bedürfnisbefriedigung ausweichen.
Denn es ist die Wahrheit, daß unser Leben durchkreuzt wird. Damit sind unsere Pläne, Erwartungen und Hoffnungen gemeint, die so häufig und so brutal vom Schicksal, von unserm eigenen Unvermögen, von der Art und Weise, wie die Menschen um uns sind, gebremst, enttäuscht oder sogar zerbrochen werden.
Wir werden in die Gegensätze, welche die Dynamik des Lebens mit sich bringt - Nähe und Verlassenheit, Freundschaft und Ablehnung -, hineingezogen. Ohne daß wir es absichtlich wollen, sehen wir uns plötzlich mit dem Leid konfrontiert.
Unser Glaube an die Erhöhung des Kreuzes und des Gekreuzigten besagt, daß es einen Punkt in uns selbst gibt, in der Mitte unserer Existenz, der stärker ist als jeder Druck von außen, jede Angst und Dunkelheit.
Genau in diesen Punkt ist Jesus eingetreten und durchgegangen, und mit ihm die vielen, die wie er für die Wahrheit eingetreten sind.
Die Erhöhung des Kreuzes: Wer ist der Stärkere?
Was Überwindung von Leid und Todesangst sein kann, dafür liefern die Widerstandskämpfer des Dritten Reiches überzeugende Beweise. Neben den bekannten Namen wie Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp sei ein Mann angeführt, der als Rechtsanwalt in die Verschwörung des 20. Juli verwickelt war und Justizminister eines neuen Deutschlands werden sollte. Als gläubiger Katholik hatte er nach dem Fehlschlag mit seinem Leben abgeschlossen und eine solche innere Sicherheit und Überlegenheit erlangt, daß er dem Vorsitzenden des Volksgerichtshofes, dem berüchtigten Roland Freisler offen widersprach und ihm den Satz entgegenhielt: „Wenn ich hänge, müssen Sie mehr Angst haben als ich!" (3)
Wer dies im Angesicht des Todes sagen kann, war „durch", war an dem Punkt, der jenseits von Tod und Leben liegt. Daß wir selbst es sind, die durch - müssen, daran soll uns das Kreuz mahnen, dem wir in unseren Kirchen, Wohnungen, auf Berggipfeln und öffentlichen Plätzen und Einrichtungen begegnen.
Anmerkungen:
1. C. G. Jung, GW XI, 532
2. Vgl. John A. T. Robinson, Gott ist anders, München 1963
3. Christ in der Gegenwart Nr. 11/97 / S 86
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