Jesus - nur ein Mythos?

 

In einem Gespräch des „Spiegel" mit dem evangelischen Exegeten Lindemann wird dieser mit der Behauptung konfrontiert, dass die „Kunstfigur" Christus, die es nur in der Bibel und im Glauben der Christen gebe, ohnehin ein Mythos sei, selbst wenn dieser Mythos einen Bezugspunkt zu einem Menschen namens Jesus habe. Die Antwort des Professors klingt sehr gewunden. Die Vertreter des Nachrichtenmagazins kommen mit der Absicht, zentrale Bibelberichte über Jesus zu verifizieren oder zu falsifizieren. Dem historisch-kritischen Urteil des Exegeten fallen die Jungfrauengeburt, neben vielen Reden Jesu die Einsetzung des Abendmahls, die Osterberichte und die Himmelfahrt Jesu zum Opfer. Trotz allem steht Lindemann zur Auferweckung Jesu durch Gott. Am Schluss wird ihm die Frage gestellt: „Reicht Ihnen als Basis für Ihren Glauben die Behauptung von Menschen, was sie erlebt haben?" Seine Antwort lautet: „So ist es". (1)

Die skeptischen Leser fühlen sich in ihrer Ablehnung des Christentums bestätigt. Auf die Behauptung von einigen Leuten vor 2000 Jahren könne man ja schließlich keine Überzeugung aufbauen. Das widerspreche einfach jeder Vernunft.

Gläubige Christen werden durch solche Aussagen in Verlegenheit und Ratlosigkeit gestürzt; sie empfinden ihren Glauben an einem sehr dünnen Faden aufgehängt. Die Angst geht um, dass sich der Glaube letztendlich als nebulöses, unwirkliches Gebilde erweisen könnte. Im genannten Spiegelartikel wird Walter Kasper zitiert, der in seinem Buch „Jesus der Christus" vor dem Mythos warnt.

In kirchlichen Kreisen misstraut man eher der historisch-kritischen Forschung und kann deren Ergebnisse kaum in das traditionelle Glaubenssystem einordnen. Es hat den Anschein, als ob die Festung des Glaubens immer mehr abbröckle, andererseits für kritisch Denkende unzugänglich sei.

Mythos: Die Wirklichkeit jenseits des Logos

 

Nach der Brockhaus-Enzyklopädie wird unter Mythos die Erzählung von Göttern, Heroen und anderen Gestalten und Geschehnissen aus vorgeschichtlicher Zeit verstanden; ebenso die sich darin aussprechende Weltdeutung eines frühen (mythischen) Bewusstseins. Als dritte Bestimmung wird angeführt: Er ist das Resultat einer sich auch noch in der Moderne vollziehenden Mythisierung („neue Mythen") im Sinne einer Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Symbolcharakter. (2)

Helden und Göttersagen interessieren heute weniger, wohl aber eine dahinterstehende Weltdeutung, die ungefähr so lautet: Es gibt eine Wirklichkeit, die noch vor meinem Dasein, meinem Denken und Entscheiden liegt, ein umfassendes Größeres, das „mich denkt", meine Gefühle anregt, meine Entscheidungen beeinflusst oder sogar bestimmt. Im Brockhaus-Artikel wird die Frage offengelassen, ob Mythos nur Fiktion und Ausdruck kindlich-primitiven Denkens ist, das vom aufgeklärten Bewusstsein überwunden wird oder ob er eine der modernen wissenschaftlichen Vernunft unerreichbare tiefere Weisheit in sich birgt.

Weiterhin wird in den Raum gestellt, ob Mythos als das stets mögliche Andere des Logos" dessen mühsame Herrschaft mit subversiver Kraft zu untergraben droht oder das in einer „entzauberten" Welt lebensnotwendige Korrektiv zweckrationalen Denkens, vielleicht sogar dessen bessere Alternative darstellt.

Folgende Überlegungen sollen die Frage entscheiden helfen.

Der Mythos enthält eine Wirklichkeit, die bewegt

 

Ein Mythos hat eine psychologische Wirkung. Es sei daran erinnert, dass der Nationalsozialismus absichtlich auf die germanische Mythologie zurückgegriffen hat, um gerade junge Menschen für seine Ziele einzuspannen. So heißt zum Beispiel die Schlagzeile im „Völkischen Beobachter" vom 30. Mai 1940: „Nordmeerfahrt der deutschen Flotte". Das klingt nach Geheimnis, nach Abenteuer nach mutigem Aufbruch und lässt das Unrecht und die Schrecken des Krieges vergessen. Andererseits ist die Gestalt Konrad Adenauers zum Mythos des Wiederaufbaus, des Neuanfangs und der Versöhnung geworden, ähnlich ist es mit dem Kniefall Willi Brandts im Warschauer Ghetto. Das genannte Ereignis hat als symbolische Handlung wesentlich zur Versöhnung mit den Völkern des Ostens beigetragen. Die Angst vor dem Begriff „Mythos" erweist sich in diesem Fall als unbegründet. Niemand würde diese Bezeichnung, angewandt auf Personen oder Ereignisse der deutschen Nachkriegsgeschichte, als Entwertung sehen. Wegen seiner Wirkung auf der Ebene der Gefühle, der Stimmungen und der Motivation hat der Mythos in der Tiefenpsychologie eine gewaltige Aufwertung erfahren.

Nach Jung gibt es in der menschlichen Seele ein tiefes Bedürfnis nach mythischen Anschauungen und Bildern. Sie werden nicht absichtlich ausgedacht, sondern sie entstehen spontan wie die Träume. Sie sind symbolische Ausdrücke für das innere und unbewusste „Drama der Seele". „Was sich im Innern ereignet, wird nach außen verlegt; projizierte Mythen sind zuerst und vor allem seelische Phänomene, die die Natur der Seele enthüllen" (2). Man könnte sie auch als kollektive Träume bezeichnen.

Mythen werden nicht absichtlich erfunden, sondern wie die Träume erlebt. Für den Menschen der Frühzeit war der Mythos das seelische Leben des Stammes: Er war unmittelbar mit den Vorgängen des seelischen Hintergrundes verbunden, hatte damit seine seelische Heimat und seine Religion allerdings ohne Reflexion durch das kritische Bewusstsein. Der moderne Mensch hat die Verbindung zu diesem Urgrund verloren. Deshalb ist er bei aller rationalen Überlegenheit heimatlos und seelenlos geworden. Die Esoterikbewegung ist der Versuch, die verlorenen Bereiche wieder zu finden - allerdings mit der Gefahr, die Errungenschaft des Bewusstseins aufzugeben. Den wenigsten, die sich auf esoterische Praktiken einlassen ist diese Herausforderung bewusst. Im Grunde geht es um ein seelisches Drama, an dessen Ende ein neuer Mensch steht, einer, der den Kontakt mit dem seelischen Ursprung gefunden aber seinen Verstand nicht geopfert hat.

Damit ist etwas Entscheidendes über den Umgang mit dem Mythos gesagt. Es kann sich nicht darum handeln, in ein vorlogisches Denken zu verfallen und ein mythisches Weltbild statt des naturwissenschaftlichen anzunehmen, sondern die mythische Begrifflichkeit als Bild und Symbol einer eigentätigen Wirklichkeit nicht aber als die Wirklichkeit selbst zu sehen und deren hilfreiche und existenzerhellende Kraft zuzulassen. Um ein Beispiel zu nennen: Der heilige Franziskus nennt in seinem Sonnengesang das Tagesgestirn seinen Bruder bzw. Schwester. Der kritische Betrachter kann darin eindeutig ein mythisches Weltbild erkennen, in dem die Geschöpfe als beseelt gelten. Darf ich nun als aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts diese Lied nicht mehr singen? Es wäre geradezu absurd zu meinen, solches seiner intellektuellen Redlichkeit schuldig zu sein. Genau das Gegenteil ist gefordert. Es braucht die zweckfreie, spontane Freude an der Schöpfung, welche im mythischen Text des heiligen Franziskus zum Ausdruck kommt, um in einer kalten, sinnentleerten Welt zu überleben. Deswegen brauchen wir nicht die Ergebnisse der Naturwissenschaft zu ignorieren, dass die Sonne ein Gaskörper mit 10 Millionen Grad Celsius im Innern und 5700 Grad an der Oberfläche ist.

Dem mythologischen Verstehenshorizont wird man dann gerecht, wenn man ihn nicht als Alternative zum Logos sieht, sondern als das lebensnotwendige Korrektiv, das in einer entzauberten Welt der Seele wieder eine Heimat und einen Sinn gibt.

Die „Entmythologisierung": nur der erste Schritt zum Verständnis

 

Wenn wir davon ausgehen, dass die Mythen Ausdruck einer inneren Wirklichkeit sind, dann ergeben sich für das Thema der Mythen im Christentum neue Aspekte.

Nach Rudolf Bultmann, der sich die „Entmythologisierung" des Christentums zum Ziel gesetzt hatte, ist der bleibende Sinn des Mythos eine Anschauung und Wissen von der menschlichen Existenz; dieses Wissen soll in moderner Sprache und Vorstellungsweise wieder zum Ausdruck gebracht werden.

Wenn ein Mythos etwas über die menschliche Existenz aussagt, dann heißt das, dass wir bei dieser Art der Erzählung weniger objektiv feststellbare Fakten der handelnden Figuren erwarten dürfen, wohl aber sehr viel über die innere Befindlichkeit von Menschen. In diesem Sinn enthält eine mythologisch erzählte Geschichte durchaus eine Realität, aber eine existentielle: Angst, Liebe und Hass, Prozesse der Wandlung, der Erschütterungen, Hoffnung und Zuversicht der Menschen, die von diesem Mythos ergriffen sind. Der Akzent liegt auf dem Bedeutungsgehalt eines historischen Ereignisses nicht auf dem genau feststellbaren Ablauf. Angenommen wir hätten die genauen Daten des Lebens Jesu von der Geburt bis zum Tod ohne die Erzählung von der Jungfrauengeburt, vom Öffnen des Himmels bei seiner Taufe, vom Leuchten seines Gesichts auf dem Berg, von den Ostergeschichten, was würde uns ein Rabbi aus der Zeit des römischen Reiches noch angehen? Entmythologisierung der Hl. Schrift ist der Tribut, den wir Menschen des 21. Jahrhunderts der Vernunft schulden. Sie kann aber nur das historische Faktum einer Erzählung, einer Lehrrede oder einer Verheißung in Frage stellen, nicht aber deren symbolische Aussage und die Tatsache, dass diese über Jesus von bestimmten Menschen in einer bestimmten Zeit gemacht wurde.

Was ansteht, ist nicht eine Remythologisierung im Sinne eines Rückfalls in ein mythologisches Weltbild hinter den Erkenntnisstand der modernen Bibelwissenschaft, sondern das Öffnen deren mythischen Bilder. Das bedeutet: Diese so auf sich wirken lassen, dass einem das Herz aufgeht! Auf diese Weise werden wir an die bewegende und erhellende Kraft, an das Faszinosum der Mythen angeschlossen. Der Umgang mit den heiligen Texten gelangt dann an sein Ziel, d.h. wir haben sie dann verstanden, wenn wir in den Erlebnisraum vordringen, in dem sie entstanden sind.

Diesen gilt es zunächst etwas zu beleuchten.

Die „Mythen" des Neuen Testaments und die Grunderfahrung der ersten Christen

Um es noch einmal zu sagen: Wenn die historisch-kritische Forschung Bestandteile der Hl. Schrift als unhistorisch, als Legenden oder Mythen erkannt hat, kann das nicht heißen, dass wir es mit bloßen Fiktionen zu tun haben und sie getrost vergessen können. Sondern wir dürfen sie als den Niederschlag der Grunderfahrung der ersten Christen betrachten, als Bilder, deren Kraft auch heute geweckt werden kann. Eine Exegese ist dann wenig hilfreich, wenn sie in einer Art Bildersturm nur auf die Historizität der Ereignisse fixiert ist statt die Urerfahrung der ersten Christen in den Blick zu nehmen.

Als solche gilt die Begegnung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus. Das „Sehen" des Auferstandenen ist nicht ein unbeteiligter, objektiver Wahrnehmungsvorgang, sondern bedeutet die Wandlung der ganzen Persönlichkeit. Erscheinungserlebnisse hatten nur seine Jünger bzw. der Verfolger Saul, der dann sein Jünger wurde (Vgl. Apg 9, 1 - 22). Das Ergebnis der Erscheinungen waren verwandelte Menschen mit einem neuen Organ des Wahrnehmens, des Fühlens, Denkens, der Werte und Lebensinhalte. Das Entscheidende ist nicht, dass sie etwas sahen, was andere nicht sahen, sondern dass sie anders sahen und dass dieses Sehen eine höhere Realität beansprucht. Aus vielen Stellen geht hervor, dass es sich um einen Vorgang handelt, der als spirituelles Ziel auch bei anderen Religionen angestrebt wird, in ähnlicher Weise auch vorkommt und der in der neuen spirituellen Bewegung „Erleuchtung" genannt wird. Graf Dürckheim führt als deren Kennzeichen die Freiheit von der Angst vor dem Tod, vor Sinnleere und Vereinsamung an. Grund dafür ist die Erfahrung der absoluten Seinsfülle und der universalen Liebe (4). Es ist ein Erlebnis- und Seinszustand, wo die Grenzen der Sympathie und Antipathie und damit die der Familie, des Volkes und der Religion überschritten werden. Das spirituelle und ethische Niveau, das Dürckheim als Gipfelerfahrung bei Buddhisten, bei europäischen Christen wie Nicht-Christen wahrnahm, dürfen wir mit gutem Recht auch bei den ersten Christen vermuten. Es dürfte jener Zustand sein, den Paulus „Sein in Christus", „neue Schöpfung" (Vgl. 2 Kor 5, 1), „Neuheit des Lebens" (Röm 6,4) nennt. Was Dürckheim Zeichen der Erleuchtung nennt, springt in den Schriften der Urkirche unmittelbar ins Auge: Die Entmachtung des Todes durch die Auferstehung Jesu, Sinnfülle durch die Kraft des Geistes, Gemeinschaft und Nähe statt Ferne (Vgl. Eph 2, 12 - 13). Die Überwindung der Todesfurcht ist sogar das Allerzentralste der neutestnamentlichen Botschaft und ist unmittelbares Geschenk des Auferstandenen. Es ist zugleich die Erfahrung einer Liebe, welche die Grenzen des eigenen Volkes und der bisherigen Religionszugehörigkeit, sogar die von Raum und Zeit sprengt. Mit den Worten „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?" (Röm 8,35) drückt Paulus die Befindlichkeit eines Erleuchteten aus.

Die Fülle, die höchste Intensität des Lebensgefühlsfinden wir bei Paulus in den Sätzen „Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat (wörtlich Mist), um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein" (Phil 3, 8). Beim Thema „Erleuchtung" dürfen wir an die dreimal in der Apostelgeschichte geschilderte Szene denken, in der Paulus von einem Licht umstrahlt wird, „das heller als die Sonne" (Apg 26, 14), ebenso an den Bericht des Mathäus, wo „das Gesicht Jesu wie die Sonne leuchtete" (Mt 17, 2). Selbst wenn die Historizität der beiden Ereignisse nicht nachgewiesen werden kann, sagen sie doch sehr viel über das Erlebnisfeld der Verfasser und deren Leser aus. Es müssen ihnen wie den Mystikern aller Zeiten und aller Religionen Lichterscheinungen und viele für uns unbegreifliche Begebenheiten wie selbstverständlich geläufig gewesen sein.

Als Bezeichnung für das gr0ße Wunder der Wandlung hat sich in der kirchlichen Tradition der Begriff der „Wiedergeburt" durchgesetzt. Der äußere Akt, in dem dies geschah, war die Taufe. In der Urkirche wurde sie „auf den Namen des Herrn Jesus Christus" gespendet (Apg 2,38; 8, 16 u.a.). Das bedeutete: Die neuen Christen wurden eingetaucht in die Atmosphäre Jesu, in seine Kraft, seine Gesinnung, in seinen Erlebnis- und Denkrahmen (Vgl. Tit 3, 5; Joh 3, 3). Von der „Wiedergeburt" in der Taufe dürfen wir einen Bogen spannen zu der vieldiskutierten Geburt Jesu aus Maria der Jungfrau. Sollten die Historiker mit ihrer Kritik tatsächlich Recht haben, so ist die Erzählung des Mathäus und des Lukas (Mt 1, 18 - 25; Lk 1, 26 - 38) trotzdem keine bedeutungslose Legende oder ein religionsgeschichtliches Mythos, sondern wir dürfen sie als Spiegelung - psychologisch gesehen als Projektion - des großen Ereignisses der Geburt Gottes in den ersten Christen sehen. Es war (und ist es auch heute noch) ein Neuwerden aus dem transzendenten Erlebnis- und Motivationsgrund, ein Vorgang, der die Prägungen der eigenen Lebensgeschichte und den Zwang der vitalen Antriebe aufhebt.

Für uns heißt das: Die Basis unseres Glaubens ist wesentlich breiter als die Behauptung von einigen Leuten vor 2000 Jahren, sie hätten Erscheinungen gehabt. Entscheidend ist, ob wir selbst in den Erlebnisrahmen der ersten Christen eintreten wie es die großen Heiligen z.B. der heilige Franziskus taten. Damit schließen wir uns einer Suchbewegung an, die heute in den sogenannten neu-religiösen Aufbrüchen außerhalb der Kirche festzustellen und aus der Not der zweck-rationalen Verengung des Geistes geboren ist. Aber nur durch die existentielle Suche kommen wir zu der Erfahrung, die die ersten Christen und die großen Gestalten der christlichen Geschichte in Bildern, im „Mythos" auszudrücken versuchten.

 

Anmerkungen

1.    Der Spiegel 50 / 1999

2.    Brockhaus-Enzyklopädie; Mannheim 1991, Art. Mythos

3.    C. G. Jung, GW Bd 9, S 168

4.    Karlfried Graf Dürckheim, L' expérience réligieuse au - delà des réligions, in : Synthèses 18.° Jahrg, 210ff, 1963

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