Wie ratlos müssen wir sein?

Vor 40 war es gewiss nicht langweilig in unserem Land. Es wurde demonstriert, diskutiert, analysiert, alles Bisherige in Frage gestellt. Es war die Zeit, wo die weltanschaulichen und politischen Gegensätze aufeinanderprallten. Man wusste (scheinbar) genau, wo der Feind alles Guten, die Ursache alles Bösen seinen Sitz hatte. Man war fest davon überzeugt, wie das Glück der Menschheit aussieht und wie es herzustellen sei. Die Ideen von einer besseren, sogar heilen Welt hatten Kraft und begeisterten.
Im Raum der Kirche nahm der Aufbruch des Konzils konkrete Formen an. Die meisten empfanden eine große Erleichterung, aus alten einengenden, bedrückenden und angstmachenden Strukturen und Vorgaben ausbrechen zu dürfen. Die Hoffnung auf einen neuen Frühling im Christentum und auf eine große Zukunft war groß.
Und heute? Es  ist eine große Ernüchterung eingetreten, die Hoffnungen haben sich nicht nur nicht erfüllt, man weiß nicht recht, wie es weitergehen soll.
Es herrscht fast überall Ratlosigkeit. In der Politik ist eher Langeweile eingezogen. Die alten Gegensätze reizen nicht mehr; die Feinde bzw. deren Bilder existieren nicht mehr. Man weiß nicht mehr, gegen wen man kämpfen soll. Jedoch ist keineswegs der Friede eingekehrt. Kriege sind wieder möglich und dort ausgebrochen, wo die Mittel, die sie verhindern sollen, nicht greifen. Die Waffen der Abschreckung wie im Kalten Krieg sind stumpf geworden. Der Terrorismus trägt das Gewand der Religion und deren Radikalität. Einen Selbstmordattentäter schreckt keine Androhung der Todesstrafe. Die Politiker des Westens sind ratlos gegenüber den Kriegen im Vorderen Orient.

Und in der Kirche?

Es sieht so aus, als ob mit der Erschlaffung der politischen Ideologien auch die christlichen Grundüberzeugungen ihre Kraft verloren hätten, zumindest in den westlichen Industrieländern. Allgemein wird geklagt, dass der Kirchenbesuch abnimmt, die Kirchenaustritte zwar nicht mehr steigen, aber hoch genug sind, der Beruf des Priesters kaum mehr von jungen Männern angestrebt wird, dass manche Diözesen ihr Priesterseminar schließen müssen, dass viele Ordensgemeinschaften darunter auch franziskanische keinen Nachwuchs und keine Perspektiven für die Zukunft haben. Bedauernswert ist auch, dass der Zustand der Laiengemeinschaften dem der Orden in vielem entspricht.

Dramatisieren oder verharmlosen?

Es mag manche beruhigen, wenn man an die Zustände früherer Zeiten erinnert etwa an die Zeit des hl. Franziskus und dass auch damals die Krise überwunden wurde.
Wache Geister jedoch, welche die Verantwortung für die Gegenwart spüren, können sich mit dieser Ruhe nicht abfinden. Es interessiert sie vielmehr, warum Aufbrüche und Zielvorstellung an Anziehung verlieren und wie man es machen soll, um sie von neuem zu beleben.
Die Vermutung geht dahin, dass Ideale und Ideologien deshalb ermüden, wenn sie zum großen Teil im Dagegen bestehen, d.h. im Zorn und in der moralischen Entrüstung über die vorgegebenen Zustände, zum andern, wenn Ideale zur Überforderung werden, weil kein Weg dahin sichtbar wird oder der bisherige nicht mehr trägt.

Der Entwicklungsweg des hl. Franziskus

Hier ist zu erinnern an die Wandlung des hl. Franziskus vom "normalen" Menschen zu dem, als den wir ihn bewundern und schätzen. Der Grund, warum der Aufbruch seiner Jugend im Erwachsenenalter nicht versandet ist, ist der Entwicklungsprozess, den er in der Zeit seiner "Bekehrung" durchmachte.
Es war nicht so, dass Franziskus einfach von heut auf morgen das Evangelium ernst nahm. Vielmehr sind es einzelne Erlebnisse, die sein Inneres - heute würden Tiefenpsychologen sagen sein Unbewusstes - aufbrechen und schrittweise verändern. Er ist lange Zeit im Ungewissen, "in der Finsternis des Herzens," darüber, was aus ihm werden sollte. In diesem Sinn ist er auch "ratlos."
Was ihn weiter brachte, war, dass er in sich schöpferische Impulse entdeckte: z.B. eine verfallene Kapelle wiederaufzubauen, den Aussätzigen zu dienen, Gottes Nähe im Gebet in der Stille zu erfahren und etwas von diesem Glück anderen Menschen mitzuteilen.

Die schöpferischen Keime entdecken

Für die, die sich heute um die Zukunft sorgen, heißt das: den Blick schärfen für die schöpferischen Keime, die in unseren Tagen aufbrechen, und nicht in der bloßen Abwehr und in der Resignation steckenbleiben. Man sollte mehr zur Kenntnis nehmen, dass in der kritischen Zeit vor 40 Jahren religiöse und humane Ansätze entstanden, die keineswegs erlahmt sind, sondern immer mehr aufblühen und ausreifen.
Unter den positiven Aspekten sind zu nennen: die Schärfung des Gewissens für die Probleme der Dritten Welt, (wobei hier schon wieder Anfragen sind: wessen Gewissen und welche Auswirkungen hat es?), die Entdeckung des hl. Franziskus für die Problematik unserer Zeit, für Umwelt und Frieden; die Suche nach einem alternativen Lebensstil.
Ob diese Impulse aber umgesetzt werden und nicht erlahmen, (oder schon erlahmt sind), hängt wesentlich davon ab, ob wir auf diese Ziele hin vom Innersten her ausgerichtet sind; ob es gelingt, uns von Grund auf zu wandeln. Dies kann einmal jeder nur für sich selbst entscheiden, d.h. es muss in Freiheit geschehen und zweitens es muss auch Wege dazu geben, die begehbar sind.
Deshalb halte ich die Wiederentdeckung der christlichen und außerchristlichen Mystik und die religiöse Selbsterfahrung auf tiefenpsychologisch fundierter Grundlage für wesentliche schöpferische Keime unserer Zeit. Allerdings sind beide Wege unabdingbar mit einem Prozess der persönlichen Läuterung und des Wachstums verbunden.
Kern der Mystik ist das Gebet der Stille, wie es in den Meditationshäusern geübt wird; dazu gehört auch die Bedeutung des Leibes für die religiöse Praxis. Uralte Erfahrungen werden wieder neu entdeckt in der Eutonie, im Sitzen, in der Liturgie und im Fasten. Es handelt sich hier um Weisen des religiösen Vollzugs, die religiöse Erfahrung eröffnen und nicht schon voraussetzen. Sie sind gerade für solche, die “religiös unmusikalisch” sind, die entweder ohne Religion aufgewachsen oder sich von ihrer religiösen Erziehung distanziert haben. Dabei kommt noch hinzu, dass diese Formen des Religiösen eine grundlegende Wandlung der Persönlichkeit, ihrer Motivationen, Gefühle, Antriebe und Impulse bewirken. Es wird immer wieder die Erfahrung bestätigt: Wenn das Religiöse in seinem ganzen Anspruch und in seiner Tiefe angenommen und erlebt wird, wird es beglückend und überzeugend. Um ein Beispiel zu nennen: Das Meditationshaus (das Kloster) der Franziskaner in Dietfurt kann der Nachfrage nach Kursen nur zu einem Drittel nachkommen. D.h. es müsste dreimal so viel anbieten, um alle Interessenten annehmen zu können. Als schöpferische Keime können wir all jene Veranstaltungen und persönlichen Bemühungen bezeichnen, wo die Quellen der Seele wieder zu fließen beginnen, wo dem Suchen der heutigen Menschen nach Dichte und Kraft des Erlebens, nach Sinn jenseits des Konsums, nach Nähe und Freiheit zugleich ein überzeugendes Angebot gemacht wird.
Keime sind noch keine Pflanzen, noch weniger schattenspendende Bäume. Sie bedürfen deshalb der Aufmerksamkeit, um sie wahrzunehmen. Wenn wir sie in uns selbst entdecken, dann arbeitet die Zeit nicht mehr gegen uns, sondern für uns.
Die Ratlosigkeit überwinden, heißt eigentlich die Augen öffnen für das, was schon am Wachsen ist.