Sind religiöse Menschen gesünder?

.1 Glaube heilt.
Wenn viel von Heil und Heilung gesprochen, drängt sich auch die Frage auf: Welchen Einfluss haben Glaube und Religiosität auf die Gesundheit? Es sprechen viele Beobachtungen für die Aussage: Spirituelle Menschen sind gesund und leben lange. Glaube heilt und schenkt ein hohes und erfülltes Alter.
Dafür können wir große Meister der Spiritualität unserer Zeit anführen. Als erster sei der in den Zen-Kreisen bekannte, 1990 verstorbene Jesuitenpater Hugo Makibi Enomya Lasalle genannt. Er war am 6.August 1945 in Hiroshima, als die Atombombe fiel. Das Haus, in dem er lebte war von der Explosion zerstört worden. Er befand sich zwar nicht im Zentrum, aber doch im Strahlenbereich. Nach medizinischem Ermessen hätte er nicht mehr lange zu leben gehabt. Er hatte noch im 90.Lebensjahr Vorträge gehalten und starb, kurz bevor er es vollendet hatte.
Lassalle ging als Missionar nach Japan, um dort den christlichen Glauben zu verkünden, lernte dort die japanische Kultur und vor allem den Zen-Buddhismus kennen und entdeckte diese Form des spirituellen Lebens als große Bereicherung für das europäische Christentum. Er hatte die große Erleuchtung und empfand sich gerade durch die Begegnung mit dem Zen als tief gläubiger Christ. Unerklärlich ist seine Immunisierung gegen die tödlichen Strahlungen, außer man nimmt zur Kenntnis, dass es eine Lebenskraft jenseits der physikalischen und biologischen Vorgänge gibt. Er schreibt die schützende Wirkung seinem Erleuchtungserlebnis zu unter anderem auch die Tatsache, dass er sich bei minus zehn Grad ohne Handschuhe auf dem Motorrad nicht die Finger erfror. Ein anderer großer Meister der westlich-östlichen Spiritualität ist Karlfried Graf Dürckheim. Auch er war während des Krieges in Japan und versuchte danach in Todtmoos-Rütte im Schwarzwald suchenden Menschen auf der Grundlage der Tiefenpsychologie und der fernöstlichen, spirituelle Wege neue Möglichkeiten der Transzendenzerfahrung zu erschließen. Er nannte seine "Methode", was nichts anderes als Weg heißt, initiatische Leibtherapie. Damit stellte er die in anderen Religionen und Kulturen selbstverständliche, im Christentum aber verloren gegangene Weisheit in den Mittelpunkt seines Bemühens. Sie heißt: Das Religiöse geht über den Leib. Die Erfahrung von Transzendenz ist davon abhängig, wie ich in meinem Leib bin. Der Leib soll transparent für Transzendenz werden. Dies ist das Ziel seiner Leibtherapie im Gegensatz zu der sonst üblichen pragmatischen Therapie, welche Genuss- und Arbeitsfähigkeit als psychische Gesundheit anstrebt. Dürckheim unterscheidet zwischen dem Leib, den ich habe und dem Leib, der ich bin. Die Wiederentdeckung des Leibes als Organ religiöser Erfahrung ist der Schlüssel für die Neubelebung der Religion in einer religionslosen Zeit. Im Grunde ist es die Antwort auf die Frage: Wie werden Menschen wieder religiös?
Zugleich wird uns damit der entscheidende Hinweis auf die Zusammenhänge von spirituellem Leben und Gesundheit geliefert. Dürckheim selbst hat noch im hohen Alter Vorträge gehalten und starb 1988 mit 92 Jahren.
Ein weiterer Zeuge eines gelungenen spirituell geprägten Lebens ist der französische Schriftsteller Marcel Légaut. Als Mathematikprofessor gab er sein Leben an der Universität und in der Großstadt auf und vertauschte es mit dem Leben eines Bauern in den französischen Alpen. Er brauchte den Kontakt mit der Erde, mit den Tieren und Pflanzen im Rhythmus des Jahres. Bis zu seinem Tod im Alter von 90 besaß er eine gewaltige Ausstrahlung und hat durch seine Vorträge und Bücher eine große Zahl von Menschen inspiriert und ihnen den Zugang zum spirituellen Leben erschlossen. Er starb auf der Heimkehr von einer Vortragsreise. Seinen für andere kaum nachvollziehbaren Schritt vom Professor zum einfachen Bauern tat er aus der inneren Konsequenz eines Lebensentwurfs, welcher auf Innerfahrung und Echtheit aufgebaut war. Er kann als Beispiel dafür gelten, dass die Einheit von kritischem Denken, spiritueller Erfahrung und äußerer Lebensgestaltung das Alter reich und erfüllt macht , sogar die Grundlage für die Gesundheit des Leibes ist.
Nicht zuletzt sei noch die verstorbene Äbtissin des Klosters Helfta Assumpta Schenkl erwähnt. Die Niederlassung beherbergte im dreizehnten Jahrhundert eine blühende Mystik, war vierhundert Jahren verlassen und wurde unter ihrer Führung neu errichtet. Die Ordensfrau beeindruckte nicht nur kirchentreue Personen, sondern auch die Bewohner der Umgebung, die völlig religionslos aufgewachsen waren. In den wenigen Jahren, in denen sie dort war, hat sie sich große Achtung und Anerkennung, vor allem viel Vertrauen und Zuneigung bei der Bevölkerung erworben. Dabei war sie 75, als sie von Seligental/Landshut mit sieben Schwestern aufgebrochen war. Man darf eine außergewöhnliche Kraft vermuten, wenn jemand in diesem Alter noch so etwas vermag. Ohne die Echtheit und Tiefe ihres spirituellen Lebens, ihres Glaubens und ihres Menschseins wäre eine solche Frau nicht zu verstehen.
Aus den angeführten Beispielen scheint sich nun mit Gewissheit zu ergeben, dass gelebter Glaube und religiöses Leben gut für die Gesundheit sind und ein hohes Alter mit ein schließen. Für Kritische mögen die angeführten Beispiele noch nicht ausreichen. Es könnten auch andere Ursachen als die religiöse Einstellung die Rüstigkeit und Gesundheit im Alter verursacht haben zum Beispiel Vererbung oder
eine sonst übliche gesunde Lebensweise, die auch bei nicht religiösen Menschen anzutreffen ist. Zudem sagen ein paar Beispiele nicht viel, es müsste eine größere Schar von religiös praktizierenden Menschen sein, die im Vergleich zur allgemeinen Lebenserwartung ein höheres Alter erreichen.

Gesicherte Untersuchungen
Es gibt tatsächlich gesicherte Untersuchungen, dass religiöse Menschen mit den Grenzen des Menschseins, mit Schicksalsschlägen, mit Krankheit, Alter und Behinderung besser umgehen als nicht religiöse. Es wurden auch Studien in amerikanischen Krankenhäusern durchgeführt, die beweisen, dass beten zur Heilung beiträgt, dass Menschen mit festem Glauben, für die gebetet wird, eine größere Heilungschance haben. In der Fachzeitschrift Psychologie heute konnte man lesen:
„ Wer an einen gütigen Gott oder eine andere positive transzendente Kraft oder auch ,,nur" an einen tieferen Sinn des Lebens glaubt, bewältigt Lebenskrisen, Stress und psychosoziale Kon¬flikte leichter" (1). Im Einzelnen werden folgende Wirkungen herausgestellt:
Glauben wirkt präventiv:
Glauben beeinflusst den Lebensstil im Sinne von gesünderen Gewohnheiten.
Glaubende konsumieren weniger Alkohol, Zigaretten und andere Drogen als Nichtgläubige und sind entsprechend weniger durch Sucht oder andere negative Folgen dieses Konsums gefährdet. Sie sind deshalb weniger anfällig für stressbedingte und psychosomatische Krankheiten.


Glauben begünstigt die Genesung:

Ein Glaubender hat, falls er dennoch einmal erkrankt, mehr Vertrauen in den Heilungsprozess und fördert ihn so.
Ein Glaubender hat einen besseren Tod.
Er kann das Sterben leichter akzeptieren und erlebt die letzte Lebensphase weniger angstvoll und verzweifelt.
Nach Studien des klinischen Psycho¬logen David Larson vom National Institute for Healthcare Research (Rockville, Marvland, USA)
wirkt sich Religiosität in 84 Prozent der Fälle positiv aus, in 13 Prozent neutral, und nur bei 3 Prozent erwies sich Gläubigkeit als gesundheitsabträglich. Die Gläubigen konsumieren weitaus weniger Drogen und Al¬kohol als die Nichtgläubigen, begehen weniger Selbst¬morde, haben eine niedrigere Scheidungsquote, und-viel-leicht überraschend - sie haben besseren Sex.

Beten entspannt.

Interessant sind auch die Untersuchungen zum Thema Beten. In Deutschland ist die Praxis ist zwar gering, aber das Verlangen danach aber iaradoxerweise groß. Wie das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelte, haben 66 Prozent der West- und 57 Prozent der Ostdeutschen ,,manchmal das Bedürfnis nach Augenblicken der Ruhe, des Gebets, der inneren Einkehr oder etwas Ähnlichem".
In den Vereinigten Staaten scheint die Anru¬fung Gottes sogar wieder in Mode zu kommen. Nach Mei¬nungsumfragen beten mehr als drei Viertel der Ameri¬kaner mindestens einmal die Woche, mehr als die Hälfte sucht sogar täglich das Gespräch mit Gott. Sogar unter den Menschen, die sich selbst als ,,Atheisten" einschät¬zen, betet immerhin einer von fünf jeden Tag.
Jeder Zweite der heute 34- bis 49jährigen in den USA hat zum täglichen Ge¬bet zurückgefunden. Bei den Nachfolgegenerationen scheinen die Betenden sogar wieder zu überwiegen.
Aber nicht die Häufigkeit des Betens scheint den Beten¬den selbst am wichtigsten zu sein, sondern dessen In-brunst, wie die Soziologin Margaret M. Poloma er-mittelte. Innerer Frieden, Nähe zu Gott und das Gefühl, von diesem geführt zu werden, sind demnach Kriterien, die ein ,,wohltuendes" Gebet ausmachen. Befragte, die auf diese Weise beten, sind laut Poloma politisch aktiv, zufrieden mit ihrem Leben und können leicht verzeihen. Die meisten Amerikaner beten, weil es ihnen Freude" bereitet. 32 Prozent wollen während der Anrufung Got¬tes mystische Erfahrungen gemacht haben. Nur wer ,,loslassen" und sein Schicksal vertrauensvoll in die Hand Gottes (oder einer anderen höheren Macht) legen kann, profitiert von der gesundheitsfördernden Kraft des Glaubens. Typisch für diese Haltung sind Gebete des Typs ,,Dein Wille geschehe". Dagegen zeitigt ein ,,berechnender", extrinsisch motivierter und auf Wirkung kalkulierter Glaube keine positiven Gesundheitseffekte.

Der wohltuende Effekt des Glaubens
Der Harvard¬Kardiologe Herbert Benson hebt den Entspannungseffekt regelmäßiger Versenkung im Gebet hervor. In dem transzendental Meditierende ruhig dasitzen und ein Wort oder einen Gedankeninhalt ständig wiederholen, lösen sie laut Benson einen physiologischen Entspannungs¬reflex aus: Der Stoffwechsel wird herabgesetzt, Herz¬schlag und Blutdruck sinken, Stress wird abgebaut"(1).
Demnach gibt es unübersehbar positive Zusammenhänge zwischen bestimmten Formen von Religiosität und leib-seelischer Gesundheit.
Heiko Ernst fasst die Ergebnisse so zusammen:
„Die wohltuende Wirkung des Glaubens beruht mit hoher Wahr¬scheinlichkeit auf der Kombination von sozialer Unter¬stützung, Lebenssinn, dem Gefühl, mit einer höheren Macht verbunden zu sein, und stressreduzierenden Ge¬bets- und Meditationspraktiken"(2).


.2. Macht Religion krank?   

Heilige waren krank und starben sehr früh. 

Nun ist das noch lange nicht die ganze Wirklichkeit. Es gibt ganz andere Beispiele, die dem Gesagten total widersprechen. Aus dem Bekanntenkreis kennt jeder Menschen, die verhältnismäßig früh gestorben sind und das, obwohl sie sehr gläubig waren.
Am meisten sollte aber zu denken geben, dass viele Heilige sogar die allermeisten keineswegs ein hohes Alter erreichten und oft sogar zeitlebens krank waren. Der heilige Franziskus, der auch heute noch durch die Lauterkeit seines Glaubens Menschen aus allen Ländern und Religionen anzieht, starb bereits mit 46, seine von ihm inspirierte Gefährtin in der Nachfolge Christi, die heilige Klara war 29 Jahre ans Bett gefesselt. Ihre Lebensweise war nach dem Bericht von Thomas von Celano so hart, dass es nicht verwunderlich ist, dass eine so lang dauernde Strenge Klaras Krankheiten verursachte, dass sie ihre Kräfte verzehrte, dass sie die Lebenskraft ihres Körpers schwächte. Lange Zeit schlief sie auf dem blanken Boden. Sie fastete dreimal in der Woche und nahm an den übrigen Tagen auch nur eine karge Nahrung zu sich, von der sie eigentlich gar nicht hätte leben können.
Die heilige Bernadette, die Seherin von Lourdes, hatte ebenfalls nur ein sehr kurzes und von Schmerzen heimgesuchtes Leben. Mit 35 erlag sie der Knochentuberkulose. Das Letzte von ihr waren Angst- und Schmerzensschreie. Als die Krankheit nicht mehr zu heilen war, sah sie die Krankheit als ihre Aufgabe.
Man könnte auch noch die heilige Theresia von Lisieux anführen, die ebenfalls in jungen Jahren mit 24 von der Lungentuberkulose weggerafft wurde.Bei manchen Heiligen kann ein kritischer Beobachter die Frage stellen. Waren sie krank, obwohl oder weil sie ein religiöses Leben in aller Radikalität führten? Macht Religiosität krank? Der Zusammenhang ist wesentlich komplexer als manche Veröffentlichungen den Anschein erregen .
.3. Heilende Spiritualität:

: das existentielle Erwachen - einer neue Leiberfahrung


Nicht jede Spiritualität heilt. Das religiöse Leben kann einerseits ein mühsames von Brauchtum und Erziehung übernommenes Tun sein, es kann aber auch zur Leidenschaft werden, die das gesamte Denken in Anspruch nimmt, sogar den bisherigen Denkrahmen sprengt. Es ist die Art des Religiösen, die durch überzeugende Gestalten wie Lassalle, Dürckheim, Légaut, Äbtissin Assumpta vertreten wird. Sie ist gekennzeichnet durch ein existentielles Erwachen. Es ist meist durch eine Krise und durch ein einschneidendes Erlebnis ausgelöst, es kann aber ganz langsam meist in der Lebensmitte eine neue Einsicht über den Sinn des eigenen Lebens aufsteigen. Kennzeichen ist eine tiefe Betroffenheit, ein Engagiert sein von innen her. Man braucht Zeit und Ruhe für sich, äußere Ablenkungen werden als störend empfunden. Man hat andere Bedürfnisse, man sucht nach spiritueller Literatur ganz gleich aus welcher Ecke sie kommt. In der alten kirchlichen Sprache hieß ein solcher Prozess Umkehr. Dürckheim spricht von Initiation, von Seinsfühlung, vom Kontakt mit dem Wesens- Ich, C. G. Jung von Individuation, vom Erwachen des Selbst, des Bildes Gottes im Menschen. Wichtig ist zu bemerken, dass diese Erfahrung den Vorrang hat vor allen anderen Gefühlen, dass andere Interessen, die bisher vorrangig waren, unbedeutend werden, dass man sehr viel Zeit, Mühen und auch Geld investiert, um auf dem Weg, den man als wertvoll und erfüllend entdeckt hat, voranzukommen. Zu denken ist an die Pilger, die sich auf den Weg nach Santiago de Compostela machen, auch an die spirituell Engagierten, welche die strenge Form der Meditation des Za-Zen üben. Kennzeichnend für diese Form des religiösen Aufbruchs ist, dass sie über den Leib geht, dass im Sinne von Dürckheim der Leib transparent für Transzendenz wird, dass ein neues Leibgefühl besser gesagt ein Leibgewissen entsteht, damit auch ein neues Lebensgefühl. Es ist die Erfahrung der Ganzheit, der Personmitte, des Punktes in uns, der tiefer und uns näher ist als alle anderen Impulse und Strebungen und der Leib, Seele, Geist als Einheit begreifen lässt. Weil der Leib auch der Sitz der Gefühle ist, verändern sich die Gefühle wie von selbst. Dahinter steht eine Kraft, die aus der Mitte des eigenen Selbst und der Welt kommt, eine Anziehung, die von sich aus die Harmonie der Dinge, der Menschen und der Schöpfung will. Deshalb kommen sich Menschen, die von demselben Impuls ergriffen sind, sehr bald nahe. Es sind die Mystiker der verschiedensten Religionen, die sich sehr leicht zueinander finden.
Aufbruch zur Gesundheit?

Nun interessiert diese Form des religiösen Aufbruchs in ihrem Verhältnis zur Gesundheit. Wer den Zugang zu einem spirituellen Leben über den Leib gefunden und sich in voller Bewusstheit dafür entschieden hat, dem sagt auch der Leib bzw. das so genannte Leibgewissen, was für ihn richtig ist nicht nur beim Essen und Trinken. Auf das Falsche und das Übermäßige reagiert ein solcher Leib sofort oder zumindest einige Stunden nachher, ebenso auf Überforderung und Überanstrengung. Noch mehr zeigen Körpersignale die Atmosphäre in einem Gespräch, in der Nähe eines Menschen oder in einer Gruppe, bei einer Lektüre, einem Film, bei einer Musik, in einer Veranstaltung an. Sie entscheidet, ob man wieder aufatmen kann oder ob es einem den Hals zuschnürt, ob einem das Essen schmeckt oder ob einem der Appetit vergeht.
In diesem Zusammenhang ist auch das Fasten zu nennen. Während man in der Kirche ziemlich alle Fastengebote abgeschafft hat, wurde das Fasten als gesundheitlicher Wert neu entdeckt. Im Raum der Kirche speziell in den Orden ging die Erkenntnis verloren, dass die volle Enthaltung von Speisen, wenn sie richtig verstanden und durchgeführt wird, eine intensive spirituelle Erfahrung ist. Der ganze Leib und damit der ganze Mensch wird für das Religiöse geöffnet. Die sie hatten, sagen, es sei, wie wenn man vom Glück überschüttet wäre. Das Beten tut einem gut und geht wie von selbst. Die Worte der Liturgie und der Hl. Schrift kommen einem vor, als ob man sie zum ersten Mal hören würde. Das Fasten ist zugleich die Schärfung der inneren Wahrnehmung, des Leibgewissens. Ein spiritueller Weg, der die ganze Tiefe der Existenz erfasst, lässt keinen Raum mehr für oberflächliche Ersatzbefriedigungen wie Rauchen und das ständige Einnehmen von Süßigkeiten. Die konsequente innere Ausrichtung macht diese Dinge überflüssig. Wer zuinnerst erfüllt ist, braucht sich nicht noch zusätzlich voll stopfen oder sich in einen künstlichen Erregungszustand versetzen. Für Menschen, die sich für das spirituelle Leben in einem kontemplativen Orden entschieden haben, kommt noch die Regelmäßigkeit des Tagesablaufs hinzu.
Es gibt geregelte Zeiten des Aufstehens, des Gebets, des Essens, der Arbeit, der Erholung und der Ruhe, die so unter dem Druck des Arbeitslebens nicht zu haben sind. So gesehen müssten Ordensleute die gesündesten Menschen sein. Es gibt sie und es gibt sie auch nicht. Tatsache ist, dass gerade die, deren Lauterkeit außer Zweifel stand, dem nicht entsprachen, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Gesundheit definiert. Nach ihr ist Gesundheit ein Zustand vollkommenen, körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen. Man kann nicht sagen, dass gerade die großen Gestalten der Kirchengeschichte immer in einem Zustand vollkommenen, seelischen und sozialen Wohlbefindens waren. Es wurde gesagt, dass ein spiritueller Weg in seinem vollen Ausmaß Krisen mit sich bringt, Einbrüche, die von der Umwelt trennen, Leiden, die auch körperlich sehr tief greifen. Von einem Lebensentwurf, in dem ein höherer Sinn den entscheidenden Stellenwert hat, ist keineswegs Freiheit von Schmerzen zu erwarten, wohl aber Dichte des Erlebens, Freiheit von Abhängigkeiten von Menschen und von Dingen; andererseits entsteht beglückende Nähe zu vielen Menschen, ein Verstehen auf einer tiefen existentiellen Ebene. Gerade unter tief empfindenden Personen entstehen intensive Beziehungen, ohne neue, unlösbar Probleme zu schaffen. Ein Mensch, der von Gott erfüllt ist, muss keine Gefühle unterdrücken und daran krank werden. Der Weg in die eigene Tiefe beginnt nicht mit einer Willensakrobatik, um die Ansprüche der Affekte in den Griff zu bekommen. Vielmehr geht es darum, sich in seiner Ganzheit d.h. auch im Leib wahrzunehmen und mit der Ganzheit seines Selbst wahrhaftig und gütig um zugehen. Man muss eben nicht fremde, überhöhte Ideale übernehmen und dazu noch seinen eigenen Verstand beim Meister, bei der Gruppe oder beim Oberen bzw. Oberin abliefern. Schon eher darf die Gewissheit wachsen, dass man ablegen darf, was einem über gestülpt wurde und nicht die eigene Sache ist, dass es vielmehr um das Ureigenste geht. Und dies ist etwas so Kostbares, dass man gerne bisher Wichtiges dafür gibt. Wer davon überzeugt ist, dass er einer guten und edlen Sache dient, findet leicht die Freude und die Kraft, auch Schweres auf sich zu nehmen. Dies könnte man sogar als den zentralen Pluspunkt auf dem inneren Weg bezeichnen; denn nichts ist so gut für die Gesundheit als die Freude.
Und wie war das bei den Heiligen? Franziskus hat seinen Leib "Bruder Esel" genannt und schlecht behandelt. Das allzu viele Fasten und die harte Lebensweise -er schlief meist auf dem Boden und hielt sich in feuchten Höhlen auf- dürften ihn anfällig für Krankheiten gemacht haben. In der Behandlung des eigenen Leibes hat er seinen Brüdern kein gutes Beispiel gegeben. Er tat selbst nicht das, was er ihnen aufgetragen hatte. Für uns ist die harte Bußpraxis der Selbstkasteiung der mittelalterlichen Heiligen unverständlich. War Franziskus "masochistisch" und damit neurotisch? Hat er sich selbst gequält, um daran seine Lust zu haben? Eines ist sicher: ein neurotischer Mensch kann nicht so etwas Schönes schaffen wie den Sonnengesang. Es ist eher anzunehmen, dass ihn das harte Leben zu spirituellen Erfahrungen angeregt hat; es wird sogar berichtet, dass die für uns unverständlichen Übungen der Armut und der Nächstenliebe - im Winter verschenkte er sogar seinen Mantel, den Aussätzigen wusch er ihre stinkenden Wunden -seinen inneren Jubel verstärkten.
6.4. Das Heil ohne Heilung
Die Gleichung Glaube und religiöses Leben ist gleich Gesundheit geht so nicht auf. Es würde nämlich bedeuten, dass das Religiöse doch eine Art Alternativmedizin sei nach dem Motto: Sei religiös und du bleibst gesund! Damit würde der Glaube dem Nützlichkeitsdenken unterworfen, verzweckt oder wie man heute sagt instrumentalisiert. Der echte Glaube ist Anbetung und Lobpreis Gottes aus dem Kern der Persönlichkeit, ein Wert in sich. Dies hat mit Erfahrung von Sinn zu tun, der innerweltlich nicht begründbar ist. Sie kommt dem nahe, was wir in der christlichen Tradition das "Heil" nennen. Franziskus wurde nicht geheilt, aber er war im Heil. Als ihm der Arzt seinen Tod voraussagt, kann er sagen: "Willkommen mein Bruder Tod"(1). Das heißt diese Erfahrung überschreitet die Begrenzungen des Menschseins, den Rahmen dessen, was wir gewöhnlich Gesundheit und Krankheit nennen. Selbst wenn wir ein Lebenskonzept wie Lassalle, Äbtissin Assumpta und Marcel Légaut verwirklichten, hätten wir keine Garantie, dass wir wie sie gesund blieben. Ich denke an einen Benediktiner und Zenmeister, der in frühen Jahren gestorben ist. Es gibt im menschlichen Dasein Einbrüche, die weder mit medizinischen, noch mit psychologischen, nicht einmal mit spirituellen Hilfsmitteln überwunden werden können, die einem vielmehr in den Weg gelegt sind, damit man daran wächst. Gemeint sind tiefere Einsichten, eine tiefere Gottesschau, eine umfassendere Persönlichkeit, ein vollendetes Glück. Es werden neue Räume des Erlebens geöffnet, in die auch andere eintreten können. Mir kommt der schmerzliche, aber unvergessliche Abschied der Frau eines Freundes, einer Mutter von vier Kindern in den Sinn. Sie musste mit 45 ihr noch junges Leben hergeben. Die Bekannten und Freunde, die sie in ihrem Todesleiden besuchten und verlegen waren, wie sie trösten sollten, gingen selbst getröstet und beglückt von ihrem Krankenbett weg.
Hier könnte man den Bogen schlagen zu den für uns unverständlichen Krankheiten der Heiligen. Noch einmal sei die heilige Klara mit ihrer Krankheit erwähnt. Die in unserer Zeit üblichen Erklärungen einer Magersucht( anorexia nervosa )oder einer anderen psychosomatischen Störung greifen insofern nicht, als von ihr eine heilende und ordnende, sogar beglückende Ausstrahlung ausging. Auf ihr Gebet und ihren Einfluss wurden schon zu ihren Lebzeiten Menschen geheilt. Ein neurotischer Mensch ist anderen zur Last und nicht zur Freude. Der Gedanke, dass man für andere leiden kann, klingt heute als Ausdruck eines falschen Gottesbildes. Falsch verstanden wäre es, als würde Gott das eigene Leid als Gegengabe für die Heilung anderer brauchen, vielmehr öffnen Menschen durch das Annehmen ihres Schicksals anderen den heilenden Grund der Welt. Hier ist auch die Chance, um in dem oft so sinnlos und absurd scheinenden Leiden einen Sinn zu finden.
Eine Lebenseinstellung, in der nur der Erfolgreiche, der Beliebte, der Starke und Gesunde etwas gilt, verstellt den Blick für die Wahrheit, dass Leid, Krankheit, Alter und Tod genauso zum Menschen gehören wie Jugend, strotzende Gesundheit und überschießende Lebensfreude. Leben lernen gelingt aber nur, wenn wir der anderen Seite, die uns eher bedroht als lockt, ins Auge schauen.

 

 



Anmerkungen
1) Psychologie heute 2004 s.68, Weinheim
2) ebenda

3)Thomas von Celano, zit in: Karrer Otto, Franz von Assisi, Legenden und Laude, Zürich 1986,276

 

 

 

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