Die Umkehr, die alle fordern und niemand will

Die erste und letzte These Martin Luthers  

In diesen Tagen vollenden sich die 500 Jahre, seitdem der Mönch und Professor Martin Luther seine Thesen veröffentlicht hat. Die Frage ist: Was bleibt von den Feiern, von einer euphorischen Ökumene, von theologischen Bemühungen? Die wichtigste Aufgabe müsste darin bestehen, den Thesen des Reformators, damit seinem Uranliegen auf den Grund zu gehen. Es geht ihm um das Evangelium, das zeitlos ist und kurz zusammengefasst in der ersten und letzten These zum Ausdruck. kommt. Sie sprechen von Buße und Nachfolge! Sie ernst zu nehmen, wäre der beste Weg zu den gemeinsamen Wurzeln zu finden und zu einer Ökumene, die trägt. Sie lauten:

1. Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: „ Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen", wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.

94 Man muss die Christen ermutigen, darauf bedacht zu sein, dass sie ihrem Haupt Christus durch Leiden, Tod und Hölle nachfolgen.

95. Und so dürfen sie darauf vertrauen, eher durch viele Trübsale hindurch in den Himmel einzugehen als durch die Sicherheit eines Friedens. 1

Im Vergleich dazu lesen wir im (katholischen) Lexikon für Theologie und Kirche:

So ist die Kirche, unbeschadet ihrer Heiligkeit, stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung". 2

I

Buße - ein Unwort!

Kaum ein Wort der kirchlichen Verkündigung schreckt mehr ab als die beiden Begriffe „Buße" und „Nachfolge." Das griechische Wort metanoeite! wurde ins Lateinische übersetzt mit „poenitentiam agite! Darin ist poena enthalten, was Strafe bedeutet. Durch die Übersetzung hat bereits der Aufruf Jesu einen Bedeutungswandel erhalten! Daraus folgte die Auffassung von Buße als Selbstbestrafung. Es wurde eine Tradition begründet, die mehr die Gerechtigkeit als die Barmherzigkeit Gottes sieht.. Maßgebend dafür war Tertullian, ein Theologe des 3.Jahrhunderts, der eine strenge Bußauffassung vertrat gemäß dem Satz: „In dem Maße, in dem du dich selbst nicht schonst, in eben dem Maße, so glaube, schont dich Gott".3 Es wurde der Eindruck erweckt, als ob man für unrechtmäßig empfundene Lust eine entsprechende Leistung an Schmerz erbringen müsste. Damit gewann Buße einen anderen Akzent. Sie wurde mit der Vorstellung verbunden, man müsse sich etwas Schweres auferlegen oder sich auferlegen lassen. Unter anderem gehören zur Härte gegen sich selbst ein öffentliches Bekenntnis als Selbstdemütigung, Fasten, Selbstkasteiung, eine Wallfahrt zu Fuß und andere äußerliche Beschwerden, die von der kirchlichen Instanz vorgegeben wurden. Daraus entstand das Ablasswesen, was ursprünglich ein Nachlass solcher Strafen war.

Die wörtliche Übersetzung von metanoeite lautet: Denkt um! Wandelt euch! Das ursprünglich Gemeinte ist mit „Umkehr", „Wandlung", eher getroffen und für heutige Menschen eher zugänglich. Dem entspricht das in den neuen spirituellen Richtungen gebrauchte Wort Transformation. Buße im Sinne des Reformators heißt dann: Das ganze Leben als Wandlung, als Prozess zu begreifen. Dies ist etwas anderes als sich ständig etwas Schweres aufzuerlegen. Ähnlich erging es dem Begriff „Nachfolge". Man denkt an Verzicht, Einschränkung und Verbot der Lebensfreude, im besten Fall noch an heroische Leistungen wie die von Mutter Teresa, zu die wir nicht fähig sind.

Es wird verständlich, dass auf diesem Hintergrund der Durchbruch zur Freiheit und Freude des Evangeliums zum Wendepunkt für den jungen Mönch wurde.

Die Frage ist, wie Buße im Sinne des Reformators und im Sinne des Evangeliums vom heutigen Menschen vollzogen werden kann?

II

Die Kirche braucht eine Umkehr, welche das traditionelle Verständnis von Buße und Nachfolge überschreitet! Die herkömmliche praktizierte Buße läuft darauf hinaus, sich in den herkömmlichen Rahmen des Denkens, der Gebote und Aszese mit Reue und Vorsatz erneut einzufügen und den Eifer darin zu steigern. Es gilt zu prüfen, ob der Rahmen und die praktizierten Methoden, dem Aufruf Jesu, der umwerfenden Wirkung des Evangeliums und den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden. Umdenken heißt dann, den bisherigen Rahmen des Denkens verlassen.. Es beginnt beim „Nachdenken" oder eher „nachdenklich" werden. Anlass dazu sind folgende Tatsachen:

1.Der Kirche laufen die Leute in Scharen davon. Offenkundig ist die Tatsache, dass der Kirche die Menschen in Scharen davonlaufen. Es ist kein soziales Tabu mehr, aus der Kirche auszutreten. Im Jahre 2016 waren es 162.000 Katholiken, 190 000 evangelische Christen. Man ist glücklich, dass die Zahl der Austritte gleich bleibt, was nicht den Trend als solche aufhält. 2010 gehörten 62 Prozent der Bevölkerung einer der großen Kirchen an, 2016 noch 55 Prozent. Die Gründe für die Austritte liegen viel tiefer als in den Aufsehen erregenden Skandalen. Es ist der Mangel an Bedeutung der Kirche in der modernen Gesellschaft. Eine humane Ethik kann man auch ohne Kirche hochhalten, spirituelle Erfahrungen kann man auch außerhalb machen. Man kann unter den Ausgetretenen Personen antreffen, die hoch religiös interessiert sind, aber mit ihrer Suche im herkömmlichen kirchlichen Betrieb keinen Anschluss finden. Ein Twitter- Kommentar lautet. „Die deutschen Amtskirchen, beide, haben jedenfalls gar nichts Inspirierendes mehr. Ich persönlich empfinde sie als fremde Wesen einer fernen Zeit, die nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Antworten auf die Fragen, die das Leben stellt, finde ich dort ganz sicher nicht" 4. „ Die christlichen Kirchen in Deutschland scheinen kaum noch einen Einfluss auf ihre eigene Entwicklung nehmen zu können und äußeren Faktoren ausgesetzt zu sein, denen sie wenig entgegenzusetzen haben." 5

2. Die existentielle Fragen, die Suche nach Sinn und Gelingen der Liebe finden in der Kirche nicht die Not-wendende Antwort.

Vierzig Prozent der Ehen werden geschieden. Feste Beziehungen auf Dauer und Endgültigkeit werden immer schwieriger und seltener . Menschen kommen mit der Leistungsgesellschaft nicht mehr zurecht. Namen dafür sind Lebenskrisen, , Depressionen, Burn-out. Für diese Notfälle hat man kirchlicherseits Beratungsstellen eingerichtet und sie damit an die Psychologen delegiert, aber die dahinterliegende Problematik von menschlichen Schicksalen, von gescheiterten Lebensentwürfen, von Freiheit und Nähe, von Angst und Einsamkeit, von einem berechtigten Lebensglück als ureigenste Aufgabe noch nicht erkannt. Eugen Biser spricht von der Unfähigkeit der Kirche, auf die Sorgen der Menschen verstehend einzugehen, seinem vielfach frustrierten Glücksverlangen entgegenzukommen und ihm in seiner Überforderung, Vereinsamung und Lebensangst einen Raum des Aufatmens, der Solidarität und der Geborgenheit zu bieten." 6 Man debattiert kaum darüber, wie Liebe gelingen kann, kaum über deren menschliche Voraussetzungen und psychologische Faktoren. Dabei ist Beziehung auf Dauer, Erfüllung und Sinn ganz wesentlich in der Tiefe der Existenz und der religiösen Erfahrung begründet. Überall dort, wo diese Wahrheit im Rahmen einer therapeutischen Seelsorge praktisch und glaubwürdig den Menschen vermittelt wird, ist man angefragt auch von solchen, die der Kirche fernstehen.

3. Das frühe Christentum war stärker als das Heidentum. Heute ist es umgekehrt.

Die Schaffung einer neuen Menschenart" war nach Viktor Schurr „die große Leistung der frühen Kirche allein vom Glauben her gegen eine Übermacht des Heidentums"....7. Es waren neben den caritativem Leistungen vorzüglich die Atmosphäre gegenseitigen Respekts und Vertrauens und die spirituelle Tiefe, welche Nichtchristen anzog. Der frühchristliche Apologet Minucius Felix spricht von einer „schönen Lebensweise, der alte Freunde treu bleiben und sich neue anschließen.. Wir haben gegenseitige Liebe, weil wir von Hass nichts wissen." 8 Die Bedingungen am Anfang des Christentums, als es noch keine Institution Großkirche, keine materielle Unterstützung von außen, keine Verträge mit den Staaten gab, waren für die Aufnahme der christlichen Botschaft gewiss nicht günstiger als heute. Alle Bemühungen, Synoden, Foren, Studien konnten den fortschreitenden Rückgang nicht aufhalten Die Analysen mit Hilfe der Soziologie stellen nur den Ist-Zustand fest, aber verändern nichts. Es fehlt der christlichen Botschaft von heute die Kraft des Sauerteigs..

                                                           III Ergriffenheit: die Spur Gottes

Die ehrliche Konsequenz müsste lauten: Wenn die Dinge so sind, kann am ganzen System, wie heute Glaube gelehrt, verkündet, praktiziert wird, etwas nicht stimmen!

Praktizierte Buße bedeutet dann: Nicht schon kluge Erklärungen bereithalten, sondern die Tatschen auf sich wirken lassen und dabei Verunsicherung, Ängste und Betroffenheit zulassen. Dies kann saure Mienen und lange Gesichter auslösen, aber auch den Prozess, der weiterführt.

Denn es geht genau um diese Betroffenheit. Damit hängt die vermisste Bedeutung der Kirche für die Gesellschaft engstens zusammen. Die Erzählungen von Jesus enden fast immer mit der Bemerkung: sie erschraken alle, waren erregt,( Vgl.Mk1,27); hingerissen, ergriffen, außer sich von seiner Lehre(Mt ,7,28) voller Bewunderung; priesen spontan Gott, (Mk2,12); Jesus wird zum Gespräch in der Gegend. Er hatte Ergriffenheit ausgelöst, das Herz, den Sitz der Gefühle getroffen. Das Evangelium ist hoch dramatisch, alles andere als langweilig. Ganz allgemein gilt: Jede Einstellung, ob man sie Weltanschauung oder Glaube nennt, hat einen kognitiven, behavioralen und einen emotionalen Aspekt. Die theologische Ausbildung befasst sich nur mit der intellektuellen Seite und dem Handlungsaspekt des Glaubens, nicht aber mit den Emotionen, mit der Bedeutung für den einzelnen. Eine Vorlesung über Mystik heißt noch lange nicht, dass der Hörer deshalb ein Mystiker wird oder überhaupt etwas von Mystik verstanden hat. So steht der so Ausgebildete den Strömungen der Gegenwart, sowohl der angeheizten Stimmung gegen die Kirche wie dem ehrlichen Suchen nach Sinn und Vertiefung ratlos gegenüber.

Emotionen lassen sich nicht durch Argumente und willentliche Anstrengung verändern, sondern nur durch stärkere Gefühle, durch Erfahrungen, die für die Existenz bedeutsamer sind. Hier ist die Spur Gottes auch in einer säkularisierten Welt. Denn nach Paul Tillich ist „Gott das Symbol, das mich unbedingt angeht." Es geht um die Tiefe des Seins, um die Dimension der Bedeutsamkeit, um das, was einem zutiefst nahe geht. Der Weg dorthin beginnt deshalb mit der Frage: „Was berührt mich? Was bedrückt mich? Was ergreift mich am Tiefsten? ".

Die existentielle Betroffenheit kann bei den Zuhörern nur ausgelöst werden durch die eigene Betroffenheit des Verkündigers/der Verkünderin.. Der Erfolg einer Predigt hängt weniger von einer gut ausgebildeten Rhetorik ab, sondern davon, inwieweit die Persönlichkeit von einer transzendenten Erfahrung geprägt ist und dies spürbar wird. Ergriffenheit überträgt sich von selbst. Jeder, der mit Menschen unmittelbar zu tun hat, ist sein eigenes Instrument, ob Psychotherapeut, Erzieher, Seelsorger/in oder Verkündiger/in.

So ist die Voraussetzung für therapeutische Tätigkeit die eigene Analyse oder eine ihr entsprechende Selbsterfahrung. Will man Zugang zu den Motivationen der Menschen finden und so Entscheidungen herbei führen, muss man als erstes Zugang zum eigenen inneren Menschen haben. Echte Umkehr ist somit die Bereitschaft, in sich selbst hineinzuschauen, die Frage „Wer bin ich?" zuzulassen. Eine gelungene Analyse kommt der Umkehr nahe, die der hl. Augustinus in seinen „Bekenntnissen" beschrieben hat. In einer Atmosphäre des Vertrauens kann man

auch unangenehme, sogar bittere Wahrheiten zulassen. zum Beispiel eigenes Versagen am Misslingen der Verkündigung oder am Misslingen einer Ehe. Dies kann echte Selbstverdemütigung sein. Das Ergebnis ist dann ein neues Bild von sich selbst und vom andern, das der Wahrheit näher kommt. Daraus ergibt sich die von Eugen Biser geforderte Fähigkeit, Unglückliche und Verzweifelt zu verstehen und einander von Mensch zu Mensch zu begegnen. Es ist auch die Voraussetzung für erfüllendes und überzeugendes Miteinander, dessen Fehlen gerade in kirchlichen Kreisen bitter beklagt wird.

Wer ergreift?

Wenn es um Ergriffensein und um „ fundamentale Umwandlung der Denkungsart" 9, geht, dann besteht die Frage: Wer ergreift? Wer wandelt?

C.G. Jung spricht vom Archetyp des Gottesbildes als dem Archetyp der Ganzheit, dem stärksten aller Antriebe. Ein anderer Name dafür ist das Selbst, das er das „Gefäß der göttlichen Gnade" nennt. Das Wort von Paulus„ Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir"(Gal2,20) ist für ihn maßgebend. Er lenkt damit den Blick auf das große Geheimnis, .das sich in der Person Jesu geöffnet hat und sich für uns erst wieder öffnen muss. Umkehr heißt dann, dass nicht mehr unser vordergründiges Ich unser Denken und Handeln bestimmt, sondern die angesprochene innerste Instanz, welche die bedingungslose Zuwendung Gottes konkret werden lässt. Dies führt zu einem Zustand der Freiheit und Nähe zugleich in einem ständigen Wachstum und Reifungsprozess. Genau darin erfüllt sich der Aufruf des Reformators, dass das ganze Leben Buße sein soll und das neu geschenkte Leben reine Gnade ist.

 

Fußnoten:

1 Martin Luther, Lat. Deutsche Studienausgabe, Bd.2Christusglaube und Rechtfertigung, hrsg und eingel. von Johannes Schilling, Evang. Verlagsanstalt , Leipzig, 2006

2 Konzilstext, Lumen gentium, dogmatische Konstitution über die Kirche. Vatikanum II.,

3 Paenit zit. LTHK Art Busse.VII,12:IX,6 zit. LTHK Art Busse

4 www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-07/kirchenaustritte-katholische-kirche

5 Ebenda

6 Eugen Biser , Glaubensverständnis, Freiburg 1975, 132).

7 LTHK,(1964) Art Seelsorge (katholisch)" Bd 9,579

8 Minucius Felix XXX,17 in: Frühchristliche Apologeten II BKV,69

9 LTHK,(1994) Art, .Buße, VIII

 

Literatur:

Joseph Lortz, die Reformation in Deutschland, Freiburg 1982,

Heinz Schilling, Martin Luther, München 2012

Carl Gustav Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religionen, GW Bd11